Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
rief Lina, die in einem Stuhl am Bettende gesessen hatte, und lief hinaus.
Dann kam Rita, die Müllersfrau, und half ihm, sich aufzusetzen. Von ihr erfuhr er, dass er mehr als drei Tage schlafend und fiebernd verbracht hatte. Erst in diesem Augenblick fiel ihm der Feuerüberfall wieder ein, und er griff sich an die Schulter, die sich unförmig und wund anfühlte. Der grobe Verband wies bräunliche Spuren von geronnenem Blut auf. Sie hatten ihn notdürftig verbunden. Weit und breit gab es keinen Arzt, aber die Heilung schien Fortschritte zu machen. Das war zumindest Ritas Ansicht, und da sie im Dorf die verletzten Tiere versorgte und auch manch ein Kind zur Welt gebracht hatte, glaubte er ihr.
„Was ist mit den anderen?“ wollte er irgendwann wissen. Sie hatte ihm eine Gemüsesuppe mit dicken Bohnen gebracht, die er gierig verschlang.
Lange sah sie auf den Holzboden, als müsse sie nachdenken. Dann blickte sie auf. „Tot oder gefangen. Einige versprengt. Wenn dein Neffe und Leone dich nicht weggebracht hätten...“ Sie beendete den Satz nicht.
„Danke“, war alles, was er sagen konnte.
„Bedanke dich bei ihnen und nicht bei mir.“ Sie stand auf, um frisches Wasser zu holen.
„Du weißt, was ich meine.“
Sie winkte ab und ging hinaus.
Später erfuhr er, dass tenente Roberto gefangen genommen worden war. Zwei Tage lang hatten sie ihn verhört. Von den Milizionären war er blutig geschlagen worden. Schließlich sollen sogar die Deutschen Mitleid mit ihm gehabt haben. Ein Offizier habe ihm noch eine Zigarette gegeben. Dann hätten sie ihn erschossen. „Die Schwarzhemden wollten, dass er Es lebe der Duce ruft, doch die Deutschen haben auf eine ordentliche Exekution bestanden“ - das waren die Worte der Müllerin gewesen.
Rita kam regelmäßig, um ihn mit Neuigkeiten zu versorgen. Sie war stets schwarz gekleidet und ging etwas gebückt, so als trage sie eine schwere Last. Sie mochte nur ein paar Jahre älter als Stefano sein, hatte aber ein wettergegerbtes, von der schweren Arbeit gezeichnetes Gesicht, das ihr wirkliches Alter einer genaueren Bestimmung entzog. Das Essen wurde meistens von Lina gebracht, ihrer fast erwachsenen Tochter. Sie war es auch, die seinen Verband wechselte und die Wunde auswusch. Sie war im gleichen Alter wie Vieri, und die beiden freundeten sich schnell an.
In den nächsten Wochen wurde die Mühle von Villareggio zu einem Treffpunkt für den Widerstand der ganzen Region. Neben Vieri, Mick, dem avvocato und weiteren Überlebenden der Brigade - sie hatten sich verschiedenen anderen Formationen angeschlossen - kamen Conti und Lewis gelegentlich zu Besuch. Selbst Pietro von den Grauen ließ es sich nicht nehmen, ihm seine Genesungswünsche persönlich zu überbringen. Daneben gingen Kuriere ein und aus, die die Verbindung zu den Nationalen Befreiungskomitees in Genua und im restlichen besetzten Italien aufrecht hielten.
Schon bald nach seinem Erwachen wurde Stefano eine Ärztin angekündigt, die sich seine Wunde anschauen wollte. Sie heiße Dolores, sagte man ihm, und als Vittoria ins Zimmer trat, brauchte er lange, um zu verstehen, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Sie wusste natürlich, wer sie erwartete, und die Geschwister schlossen sich in die Arme. Sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen.
Nicht dass ihre Beziehung in den letzten Jahren ungetrübt gewesen wäre. Stefano hatte von Anfang an ihre Heirat missbilligt und ihren Mann mehr als einmal als kapitalistischen Ausbeuter bezeichnet. Ihr Lebensstil missfiel ihm, das großbürgerliche Gehabe, das seiner Meinung nach überhaupt nicht zu ihrer Familie passte, der Müßiggang, der so wenig ihrer zupackenden Art entsprach. Umso mehr freute er sich, ihr jetzt in den Bergen als verkleideter Bäuerin zu begegnen, und als sie wie beiläufig eine alte Pistole aus ihrem Umhang zog, um sie auf das Tischchen zu legen, sah er fast ehrfürchtig zu ihr auf. Später sollte er sich Sorgen um sie machen. Einer einzelnen Frau konnte hier oben alles Mögliche zustoßen, und dass sie sich dessen offenbar nur allzu bewusst war, ließ sie in seiner Achtung noch höher steigen. Schließlich hatte sie ohne Not die wohlbehütete häusliche Sicherheit aufgegeben, um das zu tun, was sie als ihre Pflicht ansah.
Doch sie war selten allein unterwegs. Wenn sie gebraucht wurde, kam Franco zum Stadtrand und schickte einen Jungen, um sie zu holen. Dann wartete er beim Eichenwäldchen, und im Schutz seines alten Gewehres machten sie
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