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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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Gericht, aber doch etwas Ähnliches. Wir üben Vergeltung.“ Er lächelte aus dünnen Lippen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Auch Engel schien angespannt. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Er unterbrach sich, um sich umzudrehen und einen Befehl zu brüllen. „Wir sind die Götter des Alten Testaments, und das ist die Gerechtigkeit des Blutes.“
    Wie betäubt stand Maximilian vor ihm. Er spürte ein Kribbeln oben auf der Stirn, dort, wo der Haaransatz war, ein Kribbeln, das über die Kopfhaut lief und sich wie ein kaltes Netz auf seinen Schädel legte. Der Boden unter ihm schien zu schwanken, und er wünschte sich, tatsächlich zu fallen, wünschte sich die Dunkelheit herbei, die ihn in diesem Fallen umfinge. Stattdessen starrte er in die wasserblauen Augen des Hauptmanns. Hilflos sagte er: „Das sind Frauen, Kinder...“
    Engel sah zur nächsten Gruppe hinüber, die in gespenstischer Stille in den Stollen ging. „Ich weiß.“ Er schlug sich ein paar Mal mit seinem Stöckchen in die behandschuhte Hand. „Es ist Krieg, von Kampen, Krieg!“ Dann lauter: „Jeden Tag sterben Tausende deutscher Frauen und Kinder im Bombenhagel. Sie verbrennen bei lebendigem Leib in den Trümmern unserer Städte. Wann waren Sie das letzte Mal in der Heimat, von Kampen?“ Er hatte begonnen auf und ab zu gehen. Das Knallen seiner Absätze wurde von den Wänden zurückgeworfen. „Es ist keine Zeit für Gefühlsduselei. Wenn wir nicht mit aller Härte durchgreifen, dann ist diese Front nicht mehr zu halten. Das wissen Sie so gut wie ich. Ich tue nur meine Pflicht, und ich empfehle Ihnen dringend, es mir endlich gleichzutun.“ Mit dem Stöckchen zeigte er zur Höhle. „Im Übrigen sind das keine Zivilisten. Die meisten sind rechtmäßig verurteilte Verbrecher. Banditen, Attentäter, Subversive, die wir aus den Gefängnissen geholt haben und...“
    Das Krachen einer neuerlichen Salve übertönte seine letzten Worte, erhob sich unerträglich laut wie ein Schwarm schreiender Vögel und stob davon. Fast genauso laut, so schien es Maximilian, hämmerte sein Herz. Plötzlich war ihm Piero eingefallen, Lauras Vater, der aus nichtigem Anlass im Gefängnis saß und dessen Freilassung er der Tochter versprochen hatte. „Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich mir Ihre Verbrecher einmal näher anschaue.“ Seine Stimme klang rau.
    „Aber gewiss nicht, mein lieber von Kampen“, Engel zog das Leder seiner Handschuhe über den Fingern stramm. „Just aus diesem Grund habe ich Sie holen lassen.“ Er gab zwei Männern ein Zeichen, sie zu begleiten.
    Sie betraten die Höhle und blieben stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Es war keine natürliche Höhle, sondern ein langer, rechteckiger Raum, dessen Entstehen auf eine große Marmorader zurückgehen mochte, die man waagrecht aus dem Berg geschnitten hatte. Auch hier waren die Wände glatt, glänzte die Feuchtigkeit auf ihnen im matten Licht, das durch den breiten Eingang fiel. So glich die Höhle eher einer Kirche als einer steinernen Grotte, und daran fühlte sich Maximilian erinnert, als er in die Kälte trat.
    Der Raum war voll Menschen. So weit er sehen konnte, bis an jene Stelle, wo das Licht nicht mehr reichte und die Dunkelheit begann, standen sie einzeln und in kleinen Gruppen. Es mussten Hunderte sein. Es roch nach Kohl und ungewaschener Kleidung, der Geruch von Armut und Angst. Von der Decke fielen in unregelmäßigen Abständen dicke schwarze Tropfen.
    Die Luft war erfüllt von einem steten Murmeln, und Maximilian brauchte lange, um zu verstehen, dass sie beteten.
    Piero dagegen erkannte er sofort. Er stand etwas abseits, stand fast genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, nur dass er seine Mütze auf dem Kopf trug und die Hände unter den Achseln zu wärmen versuchte. Er schien müde.
    Maximilian rief seinen Namen, ging auf ihn zu, und Engel ließ seine Männer innehalten, die dazwischengehen wollten. Piero nahm seine Mütze ab und begrüßte ihn. Er schien ruhig und gefasst.
    „Sie kennen den Mann?“
    „Er ist der Vater meiner Haushälterin. Er ist unschuldig.“
    „Soso.“ Engel hob die Augenbrauen, dann sah er zu seinem Adjutanten.
    „Er ist ein Partisan. Wir haben ihn bei Kurierdiensten geschnappt.“
    „Unschuldig, soso“, wiederholte Engel, und Maximilian beeilte sich zu beteuern, es sei ein Missverständnis, er kenne Piero schon lange persönlich und sei bereit, sich für ihn zu verbürgen.

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