Die Nachtmahr Wunschträume
Ausstrahlung und seiner Auffassung von Unterricht tröpfelte die Stunde nur so an mir vorbei. Wieso meinten Rektoren eigentlich, sie könnten noch nebenbei unterrichten? Hatten die zu viel Freizeit? Meine Gedanken, die eben noch um Talbot, Langeweile und Klaus’ schlechtes Verhältnis zu ihm gekreist waren, verselbständigten sich. Die Erinnerung an Simons versaute mir komplett die Laune und ich gab auf, weiterhin so zu tun, als folge ich dem Text.
Immerhin war mein Deutsch gut genug, um den Texten der Band »Die Ärzte« folgen zu können – was man von meinen Spanisch nun wirklich nicht mehr behaupten konnte. Da scheiterte ich schon am erstbesten Weihnachtslied. Aber »Hijo de la luna« eignete sich deutlich besser zum Tagträumen, als »Junge«, weswegen ich doch den traurigen Song summte, während ich aus dem Fenster starrte. Das schien eine weitere meiner schlechten Eigenschaften zu werden: neben der Paranoia und dem Lauschen, meine ich.
Ich war gerade bei dem letzten Refrain angekommen, als jemand von Gebäude flog. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Einen schrecklichen Moment lang schien die Zeit still zu stehen. Justus hing an einem Regenschirm in der Luft. Der Regenschirm schwarz, er selbst blau und glücklich und im nächsten war der Schülerlotse am Fenster vorbei – den Aufschlag konnte ich mir nur vorstellen.
Mit einem Satz war ich auf den Füßen und aus dem Klassenraum. Auf dem Weg nach Draußen hörte ich noch, wie der Rektor meinen Namen brüllte, registrierte es aber »unter ferner liefen«. Genau dort rangierten auch die anderen Schüler, die im Weg standen oder ebenfalls in Richtung des Verunglückten liefen. Anscheinend war ich nicht die einzige Schülerin, die während des Unterrichts tagträumend nach draußen starrte. Und so war ich auch nicht die erste, die am Unfallort eintraf. Aber immerhin war ich unter den ersten zehn und die erste, die nicht nur wie erstarrt verharrte. Ich erstarrte nicht einmal, als ich einen Schatten durch die Büsche huschen sah. Einen Schatten, der gut und gerne ein Nachtmahr hätte sein können.
»Shit!«, fluchte ich und drängte einen der Gaffer aus dem Weg. »Ruf einen Notarzt, du Idiot!«
Ich kniete mich neben Justus nieder, der die Augen geschlossen hatte und prüfte seine Atmung. Sie war noch vorhanden. Der Puls zum Glück auch. Erst dann murmelte mein Lieblings-Sicherheitsfuzzi etwas, was verdammt nach »Mary Poppins« klang. Unwillkürlich blickte ich erst nach oben, dann zu den Büschen, wo ich den seltsamen Schatten gesehen hatte. Soweit ich auf den ersten Blick sehen konnte, war Justus bei seinem Sprung von dem einstöckigen Seitengebäude tatsächlich erst im Gebüsch gelandet und hatte damit verdammt viel Glück bewiesen. Aber ich hatte keine Röntgenaugen und da Justus heftig würgte, brachte ich ihn in die stabile Seitenlage und malträtierte ihn mit beruhigenden Floskeln, bis der Krankenwagen kam.
Nur widerwillig überließ ich Justus den Sanitätern und dem Notarzt. Am liebsten wäre ich mitgefahren, doch das war aus vielen Gründen ein Ding der Unmöglichkeit. Zwei der Gründe stand ganz in meiner Nähe und hatten es geschafft, allein durch Anwesenheit sowohl mein Karma zu ruinieren, als auch mein schlechtes Gewissen in unermessliche Höhen zu treiben. Für ersteres war Rektor Talbot zuständig, für zweiteres Jonah. Dass nur ich wusste, das vermutlich Nachtmahre der Kategorie zwei etwas mit der vermeintlichen Mutprobe (mit einem Regenschirm aus drei Meter Höhe, ach kommt schon!) zu tun hatte, machte es nicht besser. Ich fühlte mich schuldig. Sehr. Und jaaaa... ich würde diese verdammten Cretins dazu bringen zu schwören – und zu bereuen. Unter allen Umständen und mit allen Mitteln!
Ich starrte dem Krankenwagen immer noch mit geballten Fäusten hinterher, als Talbot meinem Karma endgültig den Todesstoß versetzte. »Fräulein
de Temples
?«
»Mmmh...« Ich drehte mich zu ihm um und wappnete mich innerlich gegen so gut wie alles. Wenn man jemanden nicht kannte, fuhr man mit dieser Methode sehr gut – zumindest konnte man nicht so leicht überrascht werden. Nicht einmal negativ.
Talbot schaffte es trotzdem. Seine Standpauke, den Unterricht, mein Rauslaufen und Nicht-Hören betreffend, hatte sich gewaschen. Die Strafaufgaben, die ich trotz meiner Argumente bekam, auch. Alle andere – auch die anderen Gaffer – hatten Pause, ich nicht. Ich musste Justus’ Job übernehmen und nach der Schule würde ich auch noch den gesamten Schulflur
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