Die Nachtwächter
Geräusche ab. Keiner
der Wächter an den Tischen schrieb mehr.
»Ich meine, ich erinnere mich daran, dass du letztes Jahr eine solche
Blume getragen hast, so wie Reg und Nobby, und ich habe mich
gefragt, ob man das von uns al en erwartet…« Fing sprach nicht weiter.
Colons normalerweise freundlich blickende Augen waren zu schmalen
Schlitzen zusammengekniffen und verkündeten: Du stehst auf dünnem
Eis, Junge, und unter dir knackt es…
»Ich meine, unsere Hauswirtin hat einen Garten, und dort könnte ich
mir leicht eine Blume besorgen…«, fuhr Fing fort, bestrebt, Selbstmord
zu begehen.
»Du würdest heute eine Fliederblüte tragen?«, fragte Colon leise.
»Ich meine nur, wenn du Wert darauf legst, könnte ich gehen und…«
»Warst du dabei?«, fragte Colon und stand so plötzlich auf, dass sein
Stuhl umfiel.
»Immer mit der Ruhe, Fred«, murmelte Nobby.
»Ich wol te nicht…«, begann Fing. »Ich meine… Ob ich wo dabei war, Feldwebel?«
Colon beugte sich über den Schreibtisch, bis nur noch wenige
Zentimeter sein rundes, rotes Gesicht von Fings Nase trennten. »Wenn
du nichts über das Wo weißt, kannst du auch nicht dabei gewesen sein«,
sagte er noch immer leise. Dann richtete er sich wieder auf. »Nobby
und ich haben jetzt etwas zu erledigen«, fügte er hinzu. »Rühren, Fing.
Wir gehen jetzt.«
»Äh…«
Dies war kein guter Tag für Korporal Fing.
»Ja?«, fragte Colon.
»Äh… die Vorschriften, Feldwebel… Du bist der ranghöchste
Offizier, und ich bin heute der Offizier vom Dienst, andernfal s würde
ich dich nicht fragen… Wenn du das Wachhaus verlässt, Feldwebel,
musst du mir sagen, wohin du gehst. Fal s sich jemand mit dir in
Verbindung setzen möchte. Ich muss es im Buch notieren. Mit dem
Stift und so«, fügte er hinzu.
»Weißt du, welcher Tag heute ist, Fing?«, fragte Colon.
»Äh… der fünfundzwanzigste Mai, Feldwebel.«
»Und weißt du, was das bedeutet, Fing?«
»Äh…«
»Es bedeutet«, sagte Nobby, »dass jeder, der wichtig genug ist, um zu
fragen, wohin wir gegangen sind…«
»… weiß, wohin wir gegangen sind«, sagte Colon.
Hinter ihnen fiel die Tür zu.
Der Friedhof der Geringen Götter war für die Leute bestimmt, die
nicht wussten, was als Nächstes geschehen würde. Sie wussten nicht,
woran sie glauben sol ten oder ob es ein Leben nach dem Tod gab, und
oft wussten sie auch nicht, was plötzlich geschehen war. Mit
liebenswürdiger Ungewissheit waren sie durchs Leben gegangen, bis sie
schließlich die letzte Gewissheit getroffen hatte. Unter den letzten
Ruhestätten in Ankh-Morpork war dieser Friedhof die Schublade mit
der Aufschrift »Verschiedenes«. Die hier Beerdigten ruhten in freudiger
Erwartung von… nicht viel.
Die meisten Wächter wurden hier bestattet. Nach einigen Jahren fiel
es Polizisten schwer genug, an Menschen zu glauben, geschweige denn
an etwas, das sie nicht sehen konnten.
Diesmal regnete es nicht. Der Wind schüttelte die rußigen Pappeln an
der Mauer und ließ sie rascheln.
»Wir hätten Blumen mitbringen sollen«, sagte Colon, als sie durch das
hohe Gras gingen.
»Ich könnte einige von den frischen Gräbern stibitzen, Feldwebel«,
schlug Nobby vor.
»So etwas möchte ich jetzt nicht von dir hören, Nobby«, erwiderte
Colon streng.
»Entschuldige, Feldwebel.«
»Bei solch einer Gelegenheit sollte ein Mann an seine unsterbliche
Seele wie-sah-wie des mächtigen, endlosen Stroms der Geschichte
denken. Das würde ich tun, wenn ich du wäre, Nobby«
»Einverstanden, Feldwebel. Ich denke daran. Wie ich sehe, ist schon
jemand da, Feldwebel.«
An einer Mauer wuchs ein Fliederstrauch. Besser gesagt: Irgendwann
einmal war dort ein Fliederstrauch gepflanzt worden, und im Lauf der
Zeit hatten sich Hunderte von geschmeidigen Schösslingen gebildet,
was den Strauch in ein Dickicht verwandelte. Jeder Zweig trug
malvenfarbene Blüten.
Inmitten der wuchernden Vegetation waren die Gräber gerade noch
zu erkennen. Vor ihnen stand Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin
Schnapper, der am wenigsten erfolgreiche Geschäftsmann von Ankh-
Morpork. Er trug eine Fliederblüte am Hut.
Er bemerkte die Wächter und nickte ihnen zu. Sie erwiderten den
Gruß. Schweigend blickten sie auf die sieben Gräber hinab. Nur eins
von ihnen war gepflegt. Dort glänzte ein völlig moosfreier Grabstein,
der Rasen war kurz geschnitten, die steinernen Kanten makel os.
Die hölzernen Gedenktafeln der anderen Gräber waren von
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