Die Nachtwächter
Die Geschichte
findet einen Weg. Sie ist wie ein Schiffswrack. Du schwimmst zum
Ufer, und die Wel en brechen, was auch geschieht. Steht nicht
geschrieben ›Dem großen Meer ist es gleich, wohin die kleinen Fische
schwimmen‹? Menschen sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist…«
»Keel nicht! Carcer hat den armen Kerl niedergeschlagen.«
»Seine Zeit war in dieser Gegenwart gekommen, Kommandeur«, sagte
Qu. »Aber er wird seine Rolle in der anderen spielen, Herr Mumm.
Letztendlich. Du wirst das Ufer erreichen. Du musst. Andernfalls…«
»… gibt es kein Ufer«, vervollständigte Kehrer den Satz.
»Nein«, sagte Mumm. »Es muss noch mehr geben. Ich schwimme
nicht, ich ertrinke. Wisst ihr, zu Anfang hat es Spaß gemacht. Wie ein
freier Abend. Die Straße wieder unter den Füßen spüren. Aber jetzt…
Was ist mit Sybil? Gehen meine Erinnerungen wirklich auf reale
Ereignisse zurück? Ich weiß, dass sie eine junge Frau ist, die bei ihrem Vater wohnt. Existiert eine Welt, in der sie meine Frau ist und mein Kind in sich trägt? Ich meine, existiert sie wirklich ? Oder ist das alles nur Phantasie? Könnt ihr mir beweisen, dass es eine solche Welt gibt? Wird geschehen, was geschehen ist? Oder bahnt sich ganz etwas anderes an?
Was ist real ?«
Die Mönche schwiegen. Kehrer sah Qu an, der mit den Schultern
zuckte. Kehrer blickte noch eindringlicher, daraufhin hob Qu kurz die
Hand, was so viel bedeutete wie: »Na schön, wider besseres Wissen…«
»Ja-a«, sagte Kehrer ganz langsam. »Ja, ich glaube, da können wir dir
helfen, Kommandeur. Du möchtest wissen, ob eine Zukunft auf dich
wartet. Du möchtest sie in der Hand halten und ihr Gewicht spüren.
Du möchtest einen Punkt, an dem du dich orientieren kannst, der dir
hilft, sicher zu navigieren. Ja, ich glaube, da können wir dir helfen.
Aber…«
»Ja?«
»Aber du kletterst über die Mauer zurück, und Oberfeldwebel Keel
wird sich seinen Aufgaben stellen. Er steht die Sache durch. Er gibt die
Befehle, die er für richtig hält, und es werden die richtigen Befehle sein. Er hält die Dinge zusammen. Er erfüllt seine Pflicht.«
»Er ist nicht der Einzige«, sagte Mumm.
»Ja, Kommandeur Mumm hat ebenfal s eine Aufgabe.«
»Keine Sorge, ich lasse Carcer nicht zurück«, knurrte Mumm.
»Gut. Du wirst von uns hören.«
Mumm warf den Zigarrenstummel beiseite und sah zur Mauer hoch.
»Na gut«, sagte er. »Ich steh’s durch. Aber wenn die Zeit kommt…«
»Dann sind wir bereit«, erwiderte Kehrer. »Solange du…«
Er unterbrach sich. Ein subtiles Geräusch erklang – als kröche eine
Schlange aus Silizium über den Boden.
»Meine Güte«, sagte Qu.
Mumm senkte den Blick. Der Zigarrenstummel schwelte noch. Und
um ihn herum bewegte sich der Garten der Innenstadtruhe. Einzelne
Kieselsteine glitten übereinander hinweg. Ein großer, vom Wasser glatt
geschliffener Felsen schwebte gemächlich vorbei und drehte sich. Und
dann sah Mumm, dass sich der ganze Garten drehte und der dünnen
Rauchfahne zuzuwenden schien. Ein erloschenes Streichholz segelte
vorbei und flog von Stein zu Stein, wie ein von Ameise zu Ameise
weitergereichter Nahrungsbrocken. »Ist das normal?«, fragte Mumm.
»Rein theoretisch ja«, antwortete Kehrer. »Du sol test jetzt besser
gehen, Kommandeur.«
Mumm warf einen letzten Blick auf den kreisenden Garten, zuckte
dann mit den Achseln und zog sich über die Mauer.
Die beiden Mönche starrten. Die Wel en aus kleinen Steinen schoben
den Zigarrenstummel allmählich zum Mittelpunkt.
»Erstaunlich«, sagte Qu. »Er ist jetzt Teil des Musters. Ich weiß nicht,
wie du das geschafft hast.«
»Ich bin dafür nicht verantwortlich«, erwiderte Kehrer. »Qu, können
wir…«
»Keine Zeitverschiebungen mehr«, sagte Qu. »Sie haben genug
Probleme verursacht.«
»In Ordnung«, sagte Kehrer. »Dann muss ich Suchtrupps losschicken.
Die Hehler, die korrupten Juweliere, die Pfandleihen… Wir werden es
finden. Ich verstehe unseren Freund. Die Aufgabe al ein genügt nicht.
Er braucht etwas zum Anfassen. Und ich weiß, was es ist.«
Sie sahen erneut zu dem rotierenden Garten und fühlten, wie die
Finger der Geschichte in die Welt hinaustasteten.
Mumm versuchte, nicht zum Wachhaus zurückzulaufen, denn es
standen viele Leute in Gruppen herum, und selbst eine laufende
Uniform konnte riskant sein.
Außerdem lief man nicht zu einem vorgesetzten Offizier. Er war
Oberfeldwebel. Ein Oberfeldwebel ging gemessenen
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