Die Nachtwächter
aus und warf ihn mit boshafter Zielsicherheit.
Die Gabel bewegte sich wie die Zunge einer Schlange und spießte den Apfel auf.
Der Leser blätterte um, führte die Gabel zum Mund und biss vom Apfel ab, ohne den Blick vom Buch zu lösen.
Die Aufsichtsschüler sahen Witwenmacher an; hier und dort kicherte jemand. Der junge Mann runzelte die Stirn. Der Angriff mit dem Wurfgeschoss war fehlgeschlagen, deshalb war Witwenmacher gezwungen, es mit Esprit zu versuchen, den er nicht hatte.
»Du bist ein echter Blödmann, Hunde-Freund«, sagte er.
»Ja, Witwenmacher«, erwiderte der Leser ruhig und blickte weiter in sein Buch.
»Wann legst du endlich einige anständige Prüfungen ab, Hunde-Freund?«
»Weiß nicht, Witwenmacher.«
»Hast noch nie jemanden getötet, oder, Hunde-Freund?«
»Wahrscheinlich nicht, Witwenmacher.« Der Leser blätterte wieder um. Das leise Knistern der Seite machte Witwenmacher noch wütender.
»Was liest du da?«, fragte er scharf. »Robertson, zeig mir, was der Hunde-Freund liest. Na, komm schon, her mit dem Buch!«
Der Junge neben dem Schüler, den Witwenmacher Hunde-Freund nannte, nahm das Buch und warf es über den Tisch.
Der Leser seufzte und lehnte sich zurück, als Witwenmacher einen flüchtigen Blick auf die Seiten warf.
»Seht euch das an, Leute«, sagte er. »Hunde-Freund liest ein
Bilderbuch
.« Er hielt es offen. »Hast es selbst mit deinen Buntstiften ausgemalt, was, Hunde-Freund?«
Der frühere Leser blickte an die Decke. »Nein, Witwenmacher. Die Illustrationen stammen von Fräulein Emelia Jane, der Schwester des Autors Lord Grimmelich Greville-Pipus. Es steht auf dem Titelbild, wie du vielleicht bemerkst.«
»Und hier ist ein hübsches Bild von einem
Tiger
«, fuhr Witwenmacher fort. »Warum siehst du dir Bilder an, Hunde-Freund?«
»Weil Lord Grimmelich interessante Theorien über die Kunst des Versteckens entwickelt hat, Witwenmacher«, antwortete der Leser.
»Ach? Schwarze und orangefarbene Tiger in grünen Bäumen?«, fragte Witwenmacher und schlug die Seiten grob um. »Große rote Affen in einem grünen Wald? Schwarzweiß gestreifte Zebras in gelbem Gras? Ist dies vielleicht eine Anleitung, wie man es nicht machen sollte?«
Wieder ertönte Gelächter am Tisch, aber es klang gezwungen. Witwenmacher hatte Freunde, weil er groß und reich war, aber manchmal konnte seine Gegenwart recht peinlich sein.
»Lord Grimmelich hat auch darauf hingewiesen, wie gefährlich intuitive…«
»Ist dies ein Gildenbuch, Hunde-Freund?«, fragte Witwenmacher.
»Nein, Witwenmacher. Es wurde vor einigen Jahren privat graviert, und ich konnte mir dieses Exemplar beschaffen…«
Witwenmachers Hand schoss nach vorn. Das Buch sauste davon und ließ die jüngeren Schüler am Nebentisch in Deckung gehen, bevor es im Kamin landete. Die Lehrer an den oberen Tischen sahen kurz auf und wandten sich dann wieder ihrem Essen zu.
Flammen leckten. Für ein oder zwei Sekunden brannte der Tiger hell.
»War es ein seltenes Buch?«, fragte Witwenmacher.
»Ich glaube, jetzt existiert es nicht mehr«, sagte der angebliche Hunde-Freund. »Es war die einzige Ausgabe, und die Gravierplatten sind eingeschmolzen.«
»Ärgerst du dich nie, Hunde-Freund?«
»O doch, Witwenmacher«, sagte der Leser. Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich glaube, ich gehe heute Abend früh zu Bett.« Er nickte dem Tisch zu. »Guten Abend, Witwenmacher, meine Herren…«
»Du bist ein Blödmann, Vetinari.«
»Wie du meinst, Witwenmacher.«
Mumm dachte besser, wenn sich seine Füße bewegten. Die körperliche Aktivität beruhigte ihn und ordnete seine Gedanken. Abgesehen von der Ausgangssperre und dem Bewachen der Tore gab es für die Nachtwache nicht viel zu tun. Das lag vor allem daran, dass sie aus inkompetenten Leuten bestand, von denen niemand Tüchtigkeit erwartete. Die Polizisten der Nachtwache gingen langsam Streife, gaben allen Leuten gefährlich genug Zeit, fortzuschlendern oder mit den Schatten zu verschmelzen, läuteten dann die Glocke und teilten der schlafenden Welt – beziehungsweise einer Welt, die bis eben geschlafen hatte – mit, dass alles gut war, obwohl es gar nicht danach aussah. Außerdem trieben sie die ruhigeren Betrunkenen und besonders sanftes Vieh zusammen.
Sie halten mich für Winders Spion, dachte Mumm. Sie glauben, meine Aufgabe bestünde darin, die Wache der Sirupminenstraße auszuspionieren. Genausogut könnte man einen Spion auf Hefeteig ansetzen.
Mumm verzichtete ganz
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