Die Nadel.
Gedanke, einen Korb zu bekommen, hatte ihr die ganze Lust verdorben. Sie
stand langsam auf. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Wenn sie im Bett noch einen Gin trank,
würde sie schlafen können. Sie nahm die Flasche mit nach oben.
Ihr Schlafzimmer lag
unter dem von Mr. Faber. Während sie sich auszog, konnte sie Geigenmusik aus seinem Radio
hören. Sie zog ein neues Nachthemd an – rosa, mit besticktem Ausschnitt, und niemand würde
es bewundern! Wie Mr. Faber wohl nackt aussehen würde? Wahrscheinlich hatte er keinen Bauch,
aber Haare auf der Brust und hervorstehende Rippen. Er war ja schlank. Vieleicht war sein
Hintern auch nicht sehr groß? Sie kicherte wieder und dachte: »Ich bin unmöglich.«
Dann goß sie sich ihren letzten Drink ein. Sie nahm denDrink mit ins
Bett und holte ihr Buch; aber es war ihr zu anstrengend, sich auf die Buchstaben zu
konzentrieren. Außerdem war sie der Abenteuer aus zweiter Hand überdrüssig. Geschichten
über gefährliche Liebschaften sind angenehm zu lesen, wenn einem der eigene Ehemann treu und
sicher ist, aber eine Frau braucht mehr als die Romane von Barbara Cartland. Sie nippte an
ihrem Gin und wünschte sich, daß Mr. Faber das Radio abstellen würde. Es war, als versuche
man, bei einem Tanztee zu schlafen!
Natürlich könnte sie ihn bitten, es
abzuschalten. Sie schaute auf die Uhr neben ihrem Bett: Es war nach zehn. Sie könnte ihren
Morgenrock anziehen, der zu ihrem Nachthemd paßte, ihr Haar ein wenig durchkämmen, dann in
ihre Hausschuhe schlüpfen – ganz hübsche, mit einem Rosenmuster –, hinauf zum nächsten
Treppenabsatz huschen, ja – und einfach leise an seine Tür klopfen. Er würde aufmachen,
vielleicht mit Hose und Unterhemd bekleidet, und sie dann so ansehen, wie er sie angesehen
hatte, als sie im Nachthemd auf dem Weg ins Badezimmer gewesen war . . .
»Du dumme
alte Kuh«, sagte sie laut zu sich selbst. »Du suchst doch nur nach einer Ausrede, um
hinaufgehen zu können.«
Warum brauchte sie überhaupt einen Vorwand? Sie war
erwachsen, es war ihr Haus, und in zehn Jahren hatte sie keinen Mann kennengelernt, der genau
der Richtige gewesen wäre. Und, zum Teufel, sie brauchte einen starken, harten, behaarten
Mann über sich, der auf ihren Brüsten liegen, ihr in die Ohren keuchen und ihr mit seinen
breiten, flachen Händen zwischen die Schenkel fahren würde. Denn schon morgen könnten die
Deutschen Gasbomben abwerfen, und alle würden sie röchelnd an dem Gift sterben. Und sie
hätte ihre letzte Chance verspielt.
Sie leerte ihr Glas, stand auf, zog ihren
Morgenrock an, schlüpfte in ihre Hausschuhe und holte ihren Schlüsselbund, falls er die Tür
abgeschlossen hatte und ihr Klopfen wegen des Radios nicht hören konnte.
Niemand war auf dem Treppenabsatz. Sie fand die Treppe in der
Dunkelheit. Zwar hatte sie vor, die knarrende Stufe auszulassen, doch sie stolperte auf dem
losen Teppich und machte dadurch besonders viel Lärm. Aber niemand schien sie zu hören,
deshalb ging sie weiter und pochte ganz oben an die Tür. Vorsichtig drückte sie den Griff
hinunter. Die Tür war abgeschlossen.
Das Radio wurde leiser gestellt, und Mr. Faber
rief: »Ja, bitte?«
Er hatte eine gute Aussprache: Seine Stimme war weder die eines
Cockneys noch die eines Ausländers, sie war ganz einfach angenehm akzentfrei.
Sie
fragte: »Dürfte ich mit Ihnen sprechen?«
Er schien zu zögern, dann antwortete
er: »Ich bin schon ausgezogen.«
»Ich auch«, sagte sie kichernd und öffnete die
Tür mit ihrem Zweitschlüssel. Er stand mit einer Art Schraubenzieher in der Hand vor dem
Radio. Er trug eine Hose, aber kein Unterhemd. Sein Gesicht war weiß, er schien zu Tode
erschrocken.
Sie trat ein und schloß die Tür hinter sich. Was sollte sie sagen?
Plötzlich erinnerte sie sich an einen Satz aus einem amerikanischen Film und fragte:
»Würden Sie ein einsames Mädchen zu einem Gläschen einladen?« Es war eigentlich
albern, da sie wußte, daß er keinen Alkohol auf dem Zimmer hatte, und ihr Aufzug zum
Ausgehen bestimmt nicht geeignet war. Aber es klang verführerisch.
Es schien die
gewünschte Wirkung zu haben. Ohne ein Wort zu sagen, kam er langsam auf sie zu. Sie machte
einen Schritt nach vorne, seine Arme umfingen sie, sie schloß die Augen und hob das
Gesicht. Er küßte sie, und sie bewegte sich ein wenig in seinen Armen. Dann spürte sie
einen entsetzlichen, unerträglich
Weitere Kostenlose Bücher