Die nächste Begegnung
welche? Er fragte sich das zum hundertsten Mal, während er seine Melone aufaß.
Soweit er bisher hatte feststellen können, verfügten die Avianer über keine Schriftsprache. Er hatte nirgendwo Bücher gesehen und niemals eines der Geschöpfe etwas schreiben. Es gab diese seltsamen kartenähnlichen Dokumente, über denen sie zuweilen brüteten (so jedenfalls interpretierte Richard, was sie taten), doch sah er nie, dass sie selber welche anfertigten ... oder auch nur Markierungen anbrachten ... Es war ein Rätsel.
Und was hatte es mit diesen Leggies auf sich? Er begegnete diesen Beinlingen zwei-, dreimal die Woche, und zwei davon waren mal mehrere Stunden lang in seiner Zelle gewesen, aber sie blieben nie lange still genug, als dass er sie hätte untersuchen können. Als er einen mit der Hand fangen wollte, hatte ihm der Leggie einen derben Schock verpasst, höchstwahrscheinlich einen elektrischen Stromstoß, der ihn zwang, ihn schleunigst wieder loszulassen.
Richards Geist sprang von Bildvorstellung zu Bildvorstellung in dem Bemühen, einen irgendwie planvollen Sinn in seinem Hiersein im Avianerland zu finden. Es misslang ihm zu seiner Erbitterung völlig. Und dennoch vermochte er keine Minute lang hinzunehmen, dass hinter seiner Ergreifung und der darauffolgenden immer größeren ihm gewährten Freizügigkeit kein Plan stecken könnte. Und so fuhr er fort, nach einer Antwort zu suchen, indem er sämtliche Erfahrungen an diesem Ort wieder und wieder kritisch betrachtete.
Ein einziger größerer Bereich des avianischen Lebensraums war ihm verboten, aber den hätte er vermutlich sowieso nicht erreichen können, da er ja nicht fliegen konnte. Gelegentlich sah er einige Avianer in den großen vertikalen Schacht hinabsteigen bis tief unter das Niveau, in dem Richard sich aufhielt. Und einmal sah er sogar, wie aus den tiefdunklen Unterweltsregionen zwei Nestlinge heraufgetragen wurden — sie waren kaum größer als eine menschliche Hand. Ein andermal hatte Richard in die dunkle Tiefe hinabgezeigt, aber sein avianischer Begleiter hatte nur mit dem Kopf gerüttelt (die meisten dieser fremdartigen Wesen hatten inzwischen gelernt, Richards Gestik zu verstehen).
Doch irgendwo, dachte er, muss da eine zusätzliche Information stecken. Irgendwie finde ich nur den Schlüssel dazu nicht. Er gelobte sich, eine umfassende Erkundung des gesamten avianischen Habitats durchzuführen — nicht nur der dichtgepackten Wohnhöhlen auf der gegenüberliegenden Seite des Senkrechtschachts, wo er meist das Gefühl gehabt hatte, unerwünscht zu sein, sondern auch der umfangreichen Lagerhäuser für die Mannamelonen auf der untersten Ebene. Ich werde einen genauen Lageplan anfertigen, versprach er sich, um ganz sicher zu sein, dass ich nicht etwas Entscheidendes übersehen habe.
Sobald er die Wohnbereiche der Avianer in seine dreidimensionalen Graphiken integriert hatte, begriff er, was er die ganze Zeit übersehen hatte. Richard hatte nämlich die vielfach planlos wirkenden Gangsysteme im Zylinder — einschließlich der Horizontal- und Vertikalverbindungen für Fuß- und Flugverkehr — nie in ein kohärentes Bild synthetisiert. Na, aber klar doch, sagte er, als er die unterschiedlichen Aspekte seiner komplexen Kartographierung auf den Computermonitor projizierte. Wie hab ich bloß dermaßen vernagelt sein können? Ober siebzig Prozent des Zylinders sind da überhaupt nicht erfasst!
Er beschloss, mit seinen Computerbildern zu einem der Avianer-Anführer zu gehen und — irgendwie — zu verlangen, dass man ihm auch den Rest des Zylinders zeige. Die Sache war nicht leicht. Genau an diesem Tag nämlich schienen die Avianer wegen irgendeiner Krise beunruhigt zu sein. Die Gänge schepperten und hallten wider von Keckem und Kreischen und waren voller Avianer, die hektisch durch die Gegend hasteten. Im großen Vertikalstollen sah Richard dreißig, vierzig der mächtigsten Avianer in einer irgendwie geschlossenen Flugformation aufsteigen und fort fl iegen.
Endlich gelang es ihm dann doch, die Aufmerksamkeit eines der mit drei Rotbändern dekorierten Riesenvögel zu erlangen. Das Wesen war fasziniert von der Detailfülle, die auf dem Monitor auftauchte und von den ganzen unterschiedlichen geometrischen Darstellungen seiner Heimat. Aber es gelang Richard dennoch nicht, die ihm wichtige Idee zu übermitteln, nämlich d as s er auch den Rest des Zylinders zu sehen wünschte.
Der Avianer beorderte ein paarweitere Kollegen zu sich, damit die sich
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