Die nächste Begegnung
wollte er herausfinden, wie weit die Grenzen seines neuen Bereichs gesteckt waren.
Der Gang direkt vor seiner Zelle endete an einer Kreuzung. Er konnte in beide Richtungen weitergehen. Da er aber argwöhnte, dass er sich vielleicht in so etwas wie einem Labyrinth befinden könnte, in dem seine geistigen Fähigkeiten auf die Probe gestellt werden sollten, zog er das Oberhemd aus, deponierte es an der Abzweigung und wandte sich nach rechts. In dieser Richtung schien es eindeutig mehr Licht zu geben.
Nach zwanzig Metern sah er in der Ferne zwei Avianer herankommen. Nein, eigentlich hörte er zuerst ihre Kehllaute, denn sie schienen sich angeregt zu unterhalten. Als sie nur noch fünf Meter weit weg waren, blieb Richard stehen. Die Fluggeschöpfe streiften ihn mit ihren Blicken, nahmen ihn mit einem kurzen Kreischen in veränderter Tonlage zur Kenntnis und zogen weiter den Korridor hinab.
Danach begegnete ihm ein Avianer-Trio, und die Interaktion verlief nahezu genauso wie vorher. Was ist denn hier los?, dachte er und ging weiter. Bin ich kein Gefangener mehr?
In dem ersten größeren Raum, an dem er vorüberkam, hockten vier Avianer im Kreis, reichten glatte Stäbe herum und schnatterten dabei unablässig. Etwas weiter unten, ehe der Gang in einen mittelgroßen Saal mündete, stand Richard fasziniert in einem Durchgang und sah zu, wie zwei Leggies auf einem quadratischen Tisch eine Art von Liegestütze exerzierten. Ein paar Avianer standen stumm, aber höchst interessiert dabei und sahen zu.
Im Versammlungssaal befanden sich zwanzig der vogelartigen Kreaturen. Sie drängten sich um einen Tisch, auf dem ein papierähnliches Dokument ausgebreitet lag. Sie starrten alle darauf hinab. Ein Avianer umklammerte einen Zeigestock mit der Klaue und tippte damit auf bestimmte Punkte des Dokuments. Auf dem Papier sah man seltsame, völlig unverständliche Krakel, aber Richard gewann den Eindruck, dass diese Avianer mit einer Landkarte beschäftigt waren.
Und als er näher herantrat, um die Karte auf dem Tisch besser sehen zu können, machten ihm die Avianer höflich Platz. Und aus der daraufhin folgenden Unterhaltung glaubte er — aufgrund der Körpersprache — sogar, dass eine der Fragen am Tisch an ihn gerichtet gewesen war. Also, drehe ich nun wirklich durch?, fragte er sich kopfschüttelnd.
Aber ich weiß noch immer nicht, warum sie mir auf einmal so viel Bewegungsfreiheit erlauben, dachte Richard, als er wieder in seiner Zelle saß und seine Mannamelone verspeiste. Sechs Wochen waren verstrichen, seitdem er erstmals die Zellentür offen gefunden hatte. Manches hatte sich dort selbst geändert: An den Wänden waren zwei der laternenartigen Leuchten angebracht, er schlief jetzt auf einer Schütte, deren Textur ihn an Heu erinnerte, und in einer Zellenecke stand ein regelmäßig neu gefüllter Behälter mit frischem Wasser.
Als die verschärften Haftbedingungen erstmalig gelockert wurden, war Richard überzeugt gewesen, es könne nun nur noch Stunden dauern, schlimmstenfalls einen Tag oder auch zwei, bis etwas Bedeutsames geschehen werde. In einer Hinsicht erwies sich seine Vermutung als richtig, denn am folgenden Morgen weckten ihn zwei jugendliche Avianer aus dem Schlaf und begannen mit seiner ersten Sprachlektion. Sie fingen mit ganz einfachen Dingen an, mit seiner Mannamelone, dem Wasser, Richards eigner Person, wobei sie die Sache jeweils gestisch bezeichneten und dann mehrmals langsam einen Laut wiederholten, der offensichtlich die entsprechende Bezeichnung in ihrem Kauderwelsch war. Bald hatte Richard sich ein beträchtliches Vokabular angeeignet, wenn auch seine Fähigkeit, zwischen nahe verwandten Kreisch- und Kecker- tönen zu unterscheiden, nicht allzu gut war. Völlig unbegabt war er allerdings, wenn er die Laute selbst zu wiederholen versuchte; ihm fehlte einfach das körperliche Instrument für die Avianersprache.
Irgendwie hatte er jedoch erwartet, dass ihm dadurch eine klarere Erkenntnis der Gesamtzusammenhänge zuteil werden müsse; das war jedoch nicht geschehen. Gewiss, die Avianer bemühten sich unzweifelhaft, ihm etwas beizubringen, und sie hatten ihm erlaubt, frei überall in ihrem Zylinderhabitat herumzustreifen — gelegentlich speiste er sogar in ihrer Mitte, wenn die Mannamelonen angeliefert wurden —, doch wozu war das alles gut? Aus der Art, wie die Avianer ihn ansahen, insbesondere ihre Anführer, schloss Richard, dass sie etwas von ihm erwarteten, irgendeine bestimmte Reaktion. Aber
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