Die Nächte der Aphrodite
braucht. Aus dem Nest gefallene Vögel, hungrige Kinder und verlorene Seelen.« Henri blickte in sein Glas.
»Mehr ist es nicht?«
Er schnippte ein Stäubchen von seinem Ärmel. »Da müsste ich mich sehr täuschen. Und das tue ich selten, wie Ihr wisst.«
Béatrice lachte. »Oh ja, das weiß ich.«
»Und ich weiß, dass es sinnlos ist, Euch zu bitten, zu bleiben.« Er sah sie an, und sie erwiderte den Blick, ohne zu zögern. »Das ist es. Ich hatte eine wunderbare Zeit hier, aber jetzt erwartet mich ein neues, aufregendes Leben, auf das ich mich sehr freue.«
In ihren Augen stand ein leuchtender Glanz, und Henri bemerkte, dass sie über seine Schulter blickte. Ganz ohne Zweifel wartete Sevelles bereits auf sie.
»Ich wünsche Euch Glück. Falls sich die Dinge nicht so entwickeln, wie Ihr hofft, dann sollt Ihr wissen, dass Ihr hier immer willkommen seid.« Er beugte sich über ihre Hand und sagte dann: »Lasst ihn nicht warten.«
Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, wischte die Jahre beiseite und verwandelte sie in ein junges Mädchen. »Danke, Henri. Danke für alles.«
Er sah ihr nach, wie sie zu Sevelles hinüberging, mit leichten, beschwingten Schritten, die im völligen Gegensatz zu den provokativen, trägen Bewegungen standen, die sie als Zeremonienmeisterin stets zur Schau stellte.
Dann kehrte sein Blick zurück zu Elaine. In ein paar Tagen würde sich herausstellen, ob sie als Béatrices Nachfolgerin erfolgreich war. Vincent stand entspannt neben ihr und beteiligte sich lebhaft an der Konversation.
Henri verschränkte die Arme vor der Brust. Er musste sich um die Angelegenheit kümmern, und er würde es nicht länger aufschieben. Unauffällig verließ er den Saal und begab sich in sein Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin erteilte er einem der herumeilenden Lakaien den Auftrag, Bertrand zu ihm zu schicken.
Im Arbeitszimmer setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und öffnete eine Lade. Noch bevor er die Feder angespitzt hatte, betrat Bertrand den Raum.
»Euer Gnaden haben gerufen?« Er blieb in angemessenem Abstand stehen. Mit seiner Größe und den für die Livree zu breiten Schultern wirkte er niemals devot, ganz egal wie sehr er sich darum bemühte. Der Kummer über den Tod seiner Tochter im letzten Winter hatte sein Haar weiß gefärbt und die Falten noch tiefer in sein Gesicht gegraben.
»Es geht um meinen Gast Vincent. Er hat das Gedächtnis verloren und kann sich an nichts erinnern, wie du sicher weißt. Ich denke, es ist an der Zeit, Nachforschungen bezüglich seiner Familie und seiner Herkunft anzustellen. Diese Aufgabe möchte ich in deine Hände legen, Bertrand.«
Der Mann verbeugte sich. »Sehr wohl, Euer Gnaden.«
Henri spielte mit der Gänsefeder. »Es versteht sich von selbst, dass äußerste Diskretion vonnöten ist.«
Bertrand verbeugte sich wortlos.
»Gut. Ich vertraue dir.« Er schob einen kleinen Lederbeutel über die Tischfläche. »Informationen sind in der Regel teuer. Verwende das Geld nach deinem Gutdünken.«
Bertrand machte einen einzigen großen Schritt nach vorne und griff nach dem Beutel.
»In einer Woche erstattest du mir Bericht. Wenn du früher zu Ergebnissen kommst, bin ich jederzeit zu sprechen.«
»Sehr wohl, Euer Gnaden.« Er ließ den Beutel in die Tasche seiner Livree gleiten. »Habt Ihr sonst noch Wünsche?«
»Im Augenblick nicht. Du darfst dich entfernen.«
Nach einer weiteren Verbeugung gehorchte Bertrand.
Henri stand auf und holte die Kristallflasche mit dem Cognac samt einem Glas. Er hatte vor, an Ghislaine zu schreiben. Vielleicht konnte er sie ja zu einem Besuch überreden. Viel zu viel Zeit war seit ihrem letzten Treffen vergangen. Außerdem harrte noch ein Stapel ungelesener und damit unbeantworteter Korrespondenz seiner Aufmerksamkeit.
Stunden später rieb er sein schmerzendes Handgelenk. Vorigen Sommer hatte ihn der letzte Sekretär verlassen, weil er lieber in Versailles bleiben wollte, als in die Provence zurückzukehren. Bisher hatte Henri es immer aufgeschoben, einen Sekretär zu suchen, der ihm diese Arbeit abnahm. Doch der Schreibkram wurde ihm zunehmend lästig, und es kostete ihn jedes Mal größere Überwindung, sich daranzusetzen.
Gähnend streckte er sich und legte die Feder beiseite. Die Balkontüre stand offen, der dünne Vorhang blähte sich leicht im Wind. Henri trat hinaus und atmete den Duft ein, den die verschiedenen blühenden Sträucher und Bäume verströmten. Noch immer brannten die Fackeln, die den
Weitere Kostenlose Bücher