Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
Vom Netzwerk:
stürzte sich in den Wirrwarr der Fakten, und obwohl er sich darüber im Klaren war, dass eine plötzliche Erleuchtung pures Wunschdenken war, wollte er unbedingt weiterbohren, irgendetwas entdecken, das den anderen entgangen war, einen übersehenen Zusammenhang, durch den sich zwei Morde miteinander in Verbindung bringen ließen, dann ein dritter und noch einer, bis der Fall geknackt war. Endlich wieder ein richtiger Job. Die Ablenkung, die ihm dieser Fall verschaffte, war so wohltuend wie Butter auf einer Brandwunde. Er lief allmählich heiß, wälzte Akten, trieb Nancy an, bis sie beide durch die unaufhörliche, tage-und nächtelange Arbeit erschöpft waren. Für kurze Zeit nahm er sich sogar Sue Sanchez’ Worte zu Herzen – okay, das ist mein letzter großer Fall, bringen wir das verdammte Ding hinter uns und gehen mit einem großartigen Abgang in den Ruhestand.
    Crescendo.
    Decrescendo.
    Innerhalb einer Woche war er ausgebrannt, total fertig und entmutigt. Er wurde aus Robertsons Autopsiebefund und dem toxikologischen Bericht einfach nicht schlau. Und aus den sieben anderen Fällen wurde er auch nicht schlau. Er konnte einfach kein Gefühl dafür entwickeln, wer der Killer war oder welche Befriedigung ihm die Morde verschafften. Keine seiner ursprünglichen Ideen passte zu den Fakten. Alles, was bisher vorlag, ergab ein Bild der Ziellosigkeit, der Willkür – und das hatte er bei einem Serienkiller noch nie erlebt.
    Mit dem ersten Scotch wollte er die unangenehmen Gedanken an den Nachmittag in Queens dämpfen, wo er die Angehörigen des Unfallopfers befragt hatte, nette, solide Leute, die immer noch untröstlich waren. Der zweite Scotch sollte den Frust unterdrücken. Mit dem dritten wollte er seine innere Leere wenigstens teilweise mit angenehmen Erinnerungen füllen, der vierte war gegen die Einsamkeit. Und der fünfte?
    Trotz seines hämmernden Schädels und der schalen Übelkeit schleppte sich Will um acht zur Arbeit. Wenn man rechtzeitig zur Arbeit ging, im Dienst nie trank und vor fünf Uhr nachmittags keinen Tropfen anrührte, hatte man seiner Ansicht nach kein Alkoholproblem. Trotzdem konnte er die bohrenden Kopfschmerzen nicht verdrängen, und als er im Aufzug stand, drückte er einen extragroßen Kaffee an die Brust wie eine lebensrettende Schwimmweste. Er zuckte zusammen, als er ans Aufwachen zurückdachte. Komplett angezogen, um sechs Uhr morgens und ein Drittel der großen Flasche leer. Im Büro hatte er Kopfschmerztabletten. Er musste schleunigst hin.
    Doomsday-Akten stapelten sich auf seinem Schreibtisch, dem Aktenschrank, dem Bücherregal und überall auf dem Boden, Stalagmiten aus Notizen, Berichten, Hintergrundinfos, Computerausdrucken und Tatortfotos. Er hatte sich schmale Laufwege zwischen den Türmen hindurchgebahnt – von der Tür zum Schreibtischstuhl, vom Stuhl zum Bücherregal und vom Stuhl zum Fenster, damit er die Jalousien verstellen und die Nachmittagssonne ausblenden konnte. Er bewältigte den Hindernislauf, ließ sich auf den Stuhl fallen und warf zwei Schmerztabletten ein, die er mit einem Schluck heißen Kaffees hinunterspülte. Dann rieb er sich mit den Handballen die Augen, und als er sie wieder aufschlug, stand Nancy vor ihm und musterte ihn wie eine Ärztin.
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Mir geht’s bestens.«
    »So sehen Sie aber nicht aus. Sie sehen krank aus.«
    »Mir geht’s gut.« Er tastete aufs Geratewohl nach einer Akte und schlug sie auf. Sie war immer noch da. »Was ist?«
    »Was unternehmen wir heute?«, fragte sie.
    »Zunächst mal trinke ich meinen Kaffee, und Sie kommen in einer Stunde wieder.«
    Pflichtbewusst tauchte sie genau eine Stunde später wieder auf. Seine Schmerzen und die Übelkeit ließen allmählich nach, aber sein Denkvermögen war immer noch leicht eingeschränkt. »Okay«, begann er, »wie sieht Ihre Tagesplanung aus?«
    Sie schlug das unvermeidliche Notizbuch auf. »Zehn Uhr Telekonferenz mit Dr. Sofer vom Johns Hopkins, zwei Uhr Pressekonferenz der Einsatzleitung, vier Uhr Besuch bei Helen Swisher. Sie sehen besser aus.«
    »Mir ging’s vor einer Stunde gut, und mir geht’s auch jetzt gut«, erwiderte er kurz angebunden. Sie wirkte nicht gerade überzeugt, und er fragte sich, ob sie ahnte, dass er gestern getrunken hatte wie in alten Zeiten. Dann fiel ihm auf, dass auch sie besser aussah. Ihr Gesicht wirkte ein bisschen schmaler, ihr Körper ein bisschen schlanker, der Rock kniff an der Taille nicht mehr so. Sie waren zehn Tage lang

Weitere Kostenlose Bücher