Die Narben der Hoelle
Glas Rotwein in der Hand, im Cockpit der Yacht neben dem großen Ruderrad. Während sich die warme spätsommerliche Nacht über den Hafen von Ayvahk legte, redete er über das, was sich angeblich an jenem Tag vor sechs Monaten zugetragen hatte. Langsam sprach er und konzentriert, immer wieder kurz stockend. Ein verstörter Ausdruck wie von Ungläubigkeit über seine eigenen Worte stand ihm dabei im Gesicht.
Nun scherte er sich nicht mehr um die militärische Geheimhaltung, sondern berichtete Ayse und Mehmet alles, was er von Paule und von Jim Woods, dem Chef der US-Marines in Camp Marmal, über den verhängnisvollen Tag erfahren hatte.
Und natürlich das, was in dem elenden Untersuchungsbericht stand.
Auf einmal gab es für ihn nichts Wichtigeres, als dass diese beiden Menschen verstanden, was ihn umtrieb.
Aber konnte das überhaupt gelingen? Wie sollten sie etwas verstehen, was er selbst nicht fassen konnte?
Endlich darüber zu sprechen, war ihm zunächst wie ein Schritt zur inneren Befreiung vorgekommen. Doch jetzt wurde ihm schmerzlich klar, dass er so viel reden konnte, wie er wollte – dem Kern seiner Qualen kam er damit kaum näher.
Hörensagen. Mehr nicht.
Nichts, was er von jenen verlorenen Stunden erzählte, wusste er tatsächlich. Alle Anstrengungen der Ärzte hatten das nicht ändern können.
Auch Karens monatelange Arbeit mit ihm nicht.
Als hätte er in diesen Stunden gar nicht existiert, als läse er seinen Freunden eine Horrorgeschichte vor. Er selbst war darin die Hauptperson und musste staunend zur Kenntnis nehmen, dass sie angeblich von seinen Taten handelte.
»Übrigens nennt man das ,Kongrade Amnesie’, was ich habe. Das ist so, als hätte ich es gar nicht erlebt. Ich kann es nicht fühlen, mein inneres Auge kann es nicht reflektieren. Ich kann mich nur mit dem auseinandersetzen, was die Zeugen berichten und was die Untersuchung ergeben hat.«
»Das muss furchtbar sein, Jo«, sagte Ayse leise. »Aber der Bericht kommt doch, wenn ich es richtig verstanden habe, zu dem Schluss, dass dich keine Schuld trifft. Es war also ein … eine Art Unfall, den du gar nicht verhindern konntest, oder?«
Johannes schwieg einen Augenblick. Der englische Begriff, den Ayse gewählt hatte, klang ihm in den Ohren: ,Sort of an accident, hatte sie gesagt. Er ließ diesen Ausdruck in sich nachklingen.
Hörte sich gar nicht so schlecht an …
Könnte er damit leben?
»Das sehe ich ähnlich«, warf Mehmet ein, der sich während Johannes’ vorangegangenen Berichts hinter dichten Rauchschwaden versteckt hatte. »Warum akzeptierst du nicht, dass die Untersuchung deine Unschuld ergeben hat? Wenn diese Fanatiker ihre Kinder in die Schusslinie stellen, sobald das Feuer eröffnet wird, dann darfst du dir doch nicht für den Rest deines Lebens die Schuld dafür geben, wenn so etwas Schreckliches dabei passiert!«
»Versteh doch, ich kann nicht akzeptieren, dass ich das getan habe, egal unter welchen Umständen!«, rief Johannes verzweifelt aus. Hastig stand er auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Sprayhood, einer Art Cabrioverdeck über dem Niedergang. Sein Blick irrte ziellos über den nächtlichen Hafen.
Beklommenes Schweigen. Minutenlang hingen sie ihren Gedanken nach, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich räusperte sich Mehmet und murmelte mit belegter Stimme: »Komm Ayse, ich denke, es ist Zeit, nach Hause zu fahren.«
Damit stand er auf, trat zu Johannes und reichte ihm mit einer fast schüchternen Geste die Hand. »Es ist wahrscheinlich sinnlos, dich zu bitten, dass du aufhörst, dich weiter so zu quälen. Aber ich kann dir versichern: Wir wissen, dass du das nie getan hättest, wenn es in deiner Macht gelegen hätte, es zu verhindern. Was auch geschehen ist: Wir denken nicht schlecht von dir!« Befremdet blickte er auf seine ausgestreckte Hand und zog sie verlegen zurück. Schnell trat er vor und umarmte Johannes ungestüm, dem dabei Tränen in die Augen traten.
Als Johannes sich zum Abschied zu Ayse herabbeugte, legte auch sie ihre Arme um ihn und sagte leise: »Ich habe Angst um dich. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst und dass du uns anrufst, wenn es dir schlecht geht!«
Johannes konnte nur noch nicken.
Die beiden kletterten auf den Kai, winkten ihm noch einmal zu und waren kurz darauf hinter dem Hafenbüro verschwunden.
So sehr er sich auf diesen Törn gefreut hatte, so einsam fühlte er sich in diesem Moment. Eine Zeit lang blickte er hinter ihnen her, dann wandte er sich um und
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