Die Narben der Hoelle
ließ sich wieder auf die Sitzducht fallen. Seufzend schenkte er sich sein Glas voll und rückte, am Cockpittisch sitzend, dem Rotwein mit großer Zielstrebigkeit zu Leibe. Nach und nach gelang es ihm, seine Gedanken auf das zu lenken, was vor ihm lag. Da waren zum Beispiel seine Einkaufsliste für den nächsten Morgen, seine Törnplanung und der Wetterbericht, den er noch würde einholen müssen.
So vergingen zwei Stunden. Auch die restlichen Lichter auf den anderen Booten erloschen und die Stimmen und Geräusche verstummten fast gänzlich.
Die Stunde der Katzen.
Allmählich erschienen sie im fahlen Licht der Laternen auf dem Kai, zuerst nur ein paar wenige, dann immer mehr.
Diese herrenlosen Tiere schlichen, von ständigem Hunger getrieben, überall in den Häfen der östlichen Levante herum, misstrauisch gegen alle Menschen, stets auf der Suche nach Essbarem und voller Angst davor, eingefangen und erschlagen oder ertränkt zu werden. Lautstark und aggressiv verteidigten sie den Abfall, den sie irgendwo fanden, gegen ihre Artgenossen. Mal einen Fischkopf, der von einem Fischer übrig gelassen worden war, mal den vertrockneten Rest eines Sandwichs, das neben dem Mülleimer gelandet war.
In einem Anfall trunkenen Mitleids holte Johannes aus seinem Konservenvorrat zwei Dosen mit Thunfisch, riss den Deckel ab und stellte sie, ein paar Meter vom Schiff entfernt, auf den Kai.
Während er dem letzten Rest in der Flasche den Garaus machte, beobachtete er vom Cockpit aus, wie abgemagerte Katzen jeglicher Größe und Farbe sich auf die Dosen stürzten. Als er aber sah, mit welch brutaler Unerbittlichkeit die hungrigen Tiere um die Bissen kämpften, als er ihr markerschütterndes Fauchen und Schreien hörte, wurde ihm schlagartig klar, dass er diese Aktion besser hätte unterlassen sollen. Ziemlich ernüchtert schaffte er Ordnung im Cockpit, ging nach unten und fiel in seiner Kajüte in die Koje. Sofort darauf erlöste ihn ein dumpfer, traumloser Schlaf für ein paar Stunden von allem Grübeln.
In der Nacht wurde er von heftigem Kopfweh wach und meinte, im Halbschlaf Stimmen auf dem Kai direkt neben dem Schiff gehört zu haben. Beunruhigt stieg er den Niedergang nach oben und hielt Ausschau. Zu sehen war nichts, aber er hörte deutlich das Geräusch von Schritten, die sich auf dem Asphaltbelag des Kais schnell entfernten, und Stimmen von Männern, die sich etwas zuriefen. Kurz danach startete hinter dem Hafengebäude ein Auto und fuhr davon.
Komische Zeit für einen Spaziergang. Die wollten wohl am Kai ein bisschen Frischluft schnappen, vielleicht nach einer langen Nacht.
Fröstelnd zuckte er zusammen. Inzwischen war es hier draußen schon empfindlich kühl geworden. Gerade wollte er wieder nach unten gehen, wo seine warme Koje lockte, da fiel sein Blick auf das Holzbrett, das als Gangway diente. Ärgerlich, das nach seinem einsamen Gelage am Abend vergessen zu haben, zog er das Brett auf das Schiff.
Man musste es ja den Ratten oder anderem Ungeziefer nicht allzu leicht machen, in der Nacht an Bord zu schleichen.
Schlaftrunken wühlte er in seinem Medikamentenbeutel nach der Packung mit den Tramadol-Tabletten, schluckte eine davon und kroch wieder in seine Koje.
Am nächsten Morgen wachte er mit schwerem Kopf auf und mit einem Geschmack im Mund, als hätte er auf einen alten Putzlappen gebissen. Mühsam rappelte er sich hoch, joggte einmal rund um den Yachthafen und genoss dann ausgiebig die Dusche im Hafengebäude.
Wieder an Bord, kochte er sich einen starken Kaffee. Vorsichtig schlürfte er das heiße Gebräu. Danach fühlte er sich schon besser und läutete den Vormittag mit einem Besuch beim Friseur im Ort ein.
Den Genuss, sich nach allen Regeln seiner alten Kunst von einem türkischen Friseurmeister rasieren zu lassen, ließ er sich nie entgehen, wenn er wieder einmal im Lande war. Für einen lächerlich geringen Preis widmeten sich diese Männer stets hingebungsvoll der anspruchsvollen und langwierigen Prozedur, für die man sich zu Hause gerade mal drei Minuten nahm.
Mit makellos glatten Wangen verließ er schließlich den kleinen Laden, der mit unzähligen bunten Bildern und Postkarten geschmückt war – und natürlich einem gerahmten Porträt von Àtatürk.
Nach dem Einkauf von ein paar frischen Lebensmitteln im nahen Supermarkt besuchte er den Hafenmeister in seinem Büro. Eine gute Gelegenheit, seine holprigen Türkischkenntnisse auszuprobieren. Der Mann, der in seiner prächtigen Uniform auch als
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