Die Narben der Hoelle
Wochenendhaus. Die Landstraße dorthin führte über weite Strecken direkt an der Küste entlang. Fasziniert sog Johannes das Bild in sich auf.
Dieses Panorama hatte er gesehen, wenn er im Dämmerlicht seines Krankenzimmers an die Decke starrte. Lange Monate dumpfer Verzweiflung – manchmal erträglich allein durch die Erinnerung an den atemberaubenden Ausblick auf das Meer, die Inseln, die Tupfer aus weißen Segeln dazwischen.
Kaum stand sein Entlassungstermin fest, hatte er sofort Mehmet angerufen und ihn gebeten, nach einem Boot zu suchen, das er kurzfristig chartern konnte. Der Rückruf erfolgte rasch und ließ ihn auch noch die letzten paar Tage in der Klinik überstehen.
Heute Abend endlich konnte er im Yachthafen von Ayvahk an Bord gehen. Die Landleinen lösen. Ablegen.
War dieser Segeltörn die erhoffte Chance, doch noch zu seinen verschütteten Erinnerungen vorzudringen? Oder machte er sich etwas vor?
Die Botschaft, die Karen ihm mitgegeben hatte, war unmissverständlich: »Du kannst es nicht erzwingen. Niemand weiß, ob diese Stunde jemals in dein Bewusstsein zurückkehren wird. Das hängt davon ab, welche Bilder auftauchen, ob du diese Bilder ertragen kannst … «
Das vertraute Krampfgefühl im Magen war sofort wieder da. Wie immer, wenn seine Gedanken zu nahe an den kritischen Punkt kamen. Ihm fiel ein, dass er seit dem Abflug in Stuttgart noch keine seiner Tabletten genommen hatte. Wenn Karen das wüsste …
»Lass dir Zeit«, sagte Mehmet nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Beifahrer. »Reden können wir auch später.« Dann schwieg er.
Johannes nickte dankbar. Mehmet kannte ihn gut – kaum erstaunlich nach der langen Zeit.
Doktor Mehmet Görgün war Lehrbeauftragter für internationales Management an der Münchener Bundeswehr-Universität gewesen, als sie sich kennenlernten. Er betreute Johannes damals bei seiner Diplomarbeit.
Herrliche, verrückte Zeit!
Der lebenslustige Deutschtürke, zu dieser Zeit noch Junggeselle, war kein Unbekannter in der Schwabinger Szene. Auf manchem nächtlichen Streifzug, in langen Gesprächen und vielen leidenschaftlichen politischen Diskussionen entwickelte sich die Freundschaft zwischen ihnen, der auch Mehmets Umzug in die Türkei nichts hatte anhaben können. Hier in Izmir hatte er ein Im- und Exportgeschäft gegründet, das vor allem mit Deutschland regen Handel trieb.
»Nur noch eine knappe Stunde, dann sind wir da«, verkündete er nun und forderte die Klimaanlage mit ein paar dichten Schwaden aus seinem Zigarillo. »Ayse freut sich schon auf dich!«
Es wurde eine schweigsame Fahrt. Mehmet, der von der Seefahrt nicht allzu viel verstand, erzählte nur noch kurz von dem Segelschiff, »so ein französisches Boot, ungefähr zwölf Meter«. Dann überließ er Johannes seinen Gedanken.
Endlich bogen sie wenige Kilometer vor Ayvalik von der Hauptstrasse ab und fuhren in Serpentinen eine Schotterstraße bergauf. Kurz darauf kamen sie auf einen Seitenweg, und Johannes’ Blick fiel auf das Ferienhaus. Es erstrahlte, von der Nachmittagssonne beleuchtet, in fröhlichem Gelb.
Als hätte sie gemerkt, dass dies nicht ihre Farbe war, ebbte sofort auch seine dunkle Angst ab.
Ayse, Mehmets zierliche Ehefrau, stieg schon die Treppe von der Terrasse herunter und ging ihnen entgegen. Sie freute sich sichtlich über seinen Besuch und begrüßte ihn mit Wangenküssen, ein Ritual, zu dem Johannes ziemlich tief in die Knie gehen musste. Sofort war er wieder verzaubert von ihren feinen Gesichtszügen und den großen, tiefdunklen Augen.
»Ich freue mich, dass du wieder bei uns bist. Mehmet hat mir erzählt, was für eine schwere Zeit du hinter dir hast. Bist du denn nun wieder, äh … gesund?«, fragte sie in Englisch, bemerkte aber sofort das Zögern in Johannes’ Gesicht. Rasch legte sie ihm eine Hand auf den Arm und sagte: »Aber kommt erst mal herein, ihr müsst ja hungrig sein nach der Fahrt. Ich habe auf der Terrasse einen kleinen Imbiss vorbereitet.«
»Wunderbar«, erwiderte Johannes dankbar. »Im Flugzeug habe ich nämlich den Lunch verschlafen.«
Er langte kräftig zu, und alle genossen ausgiebig die köstlichen türkischen Spezialitäten, die Ayse auf den Tisch stellte. Dazu tranken sie roten Landwein von der Schwarzmeerküste.
Die Spannung aber war mit Händen zu greifen. Je länger sie zusammensaßen, desto schweigsamer wurde Johannes. Das Ehepaar sprang ein und erzählte ein paar Neuigkeiten von den drei Kindern, die für ein paar Tage bei ihren
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