Die Narben der Hoelle
nur ein böser Traum sein. Wer sollte das tun, wer waren diese Verfolger’ denn, um Himmels willen? Und – wer immer sie waren – wie sollten sie wissen, dass er, Johannes Clasen, genau zu diesem Zeitpunkt hier auf diesem Segelboot war?
Quatsch, alles blanker Unsinn, protestierte sein Verstand. Wer sollte wohl ausziehen und ausgerechnet hierher in diese verschlafene Bucht an der türkischen Ägäisküste kommen, um ihn zu töten? Und vor allem, warum?
Die Erkenntnis traf ihn wie ein glühender Strahl, der sein Inneres in Flammen setzte.
Man wollte sich an ihm rächen. Das war es.
Rächen? Verdammt, wofür?
»Eine … Abrechnung?« flüsterte er fassungslos. »Das kann doch nicht sein! Du bist einfach nicht bei Trost! Immer noch krank – irre bist du!«
Plötzlich hatte er die beiden Bunthemden auf dem Flugplatz vor Augen, die ihm bis an die Saftbar gefolgt waren. Auch da hatte er an Verfolgungswahn gedacht …
Nein, das alles waren keine Wahnideen. Schön, wenn er daran glauben könnte, selbst für den Preis der Einsicht, nun völlig durchgedreht zu sein. Aber der ganze Irrsinn war sehr real, daran gab es keinen Zweifel. Und er musste sehen, dass er ihn überlebte. Über die Motive des Mordkommandos konnte er sich später den Kopf zerbrechen.
Was, zum Teufel, konnte er jetzt tun?
Er hatte das Funkgerät und auch noch sein Handy.
Hilfe herbeirufen – aber wen? Die Küstenwache? Konnte er denen überhaupt erklären, wie verzweifelt seine Lage war? Würden sie ihm seine verrückte Geschichte glauben?
Und selbst wenn, würde es viel zu lang dauern, bis sie hier eintrafen …
»Hör auf«, knurrte er. »Lass dir was Besseres einfallen!«
Vorsichtig hob er wieder den Kopf und blickte am Rand der Sprayhood vorbei in die Dunkelheit. Weit in der Ferne sah er ein paar schwache Lichter, dort, wo der kleine Ort lag.
Es gab nur eine Chance: Er musste schnell hier weg!
Leise über die Badeleiter ins Wasser gleiten und ans Festland schwimmen, das könnte klappen. Er war sich sicher, dass er die Strecke bis an den Strand, den er am Nachmittag schon besucht hatte, problemlos schaffen würde. Die Ziegeninsel auf der anderen Seite lag zwar näher, aber dort säße er in der Falle.
Er musste ans Festland schwimmen. Und dann im Dorf Hilfe suchen.
Wenn sie ihn nicht vorher im Wasser entdeckten und erschossen …
Aber nur so konnte er es machen. Was sonst blieb ihm übrig?
Es gab keinen anderen Ausweg. Zwar gefiel ihm der Gedanke, die Yacht mit dem kleinen Passagier zu verlassen, ganz und gar nicht, aber es wäre ja nur vorübergehend.
Hoffentlich.
Bei Tage, unterstützt von den Dorfbewohnern und vielleicht sogar von Küstenwache oder Polizei, würde er zurückkommen.
Also los, schnell die wichtigsten Papiere, das Handy und etwas Geld in einen Plastikbeutel packen und wasserdicht verkleben. Außerdem eine Flasche Wasser mitnehmen und vorher noch einen Müsliriegel essen. Und dann …
Langsam schob er sich rückwärts, bis seine Füße in der Nähe des Niedergangs waren. Als er die erste Treppenstufe fühlte, begann er seinen Abstieg.
10
April
Afghanistan
Nach dem gemeinsamen Morgengebet mit seinen Söhnen, an dem auch Hashmat hatte teilnehmen dürfen, saß der Warlord in seiner Residenz beim Frühstück. Tee und Naan, das übliche Fladenbrot, etwas Marmelade und ein Stückchen Melone, mehr nahm der Fürst morgens nicht zu sich. Ihm gegenüber hatte sein Sohn Sayed Platz genommen und neben dem saß Hashmat.
Die beiden jungen Männer waren ungefähr gleich alt.
Hashmat hatte eine erstklassige Ausbildung zum Personenschützer in England durchlaufen, vom Fürsten bezahlt. Seit er von dort zurückgekehrt war, beriet sich Sayed gern mit ihm über taktische Fragen, vornehmlich Sicherheitsmaßnahmen, bevor er damit zu seinem Vater ging. Der Bodyguard zeigte mit seinem Verhalten stets, dass er den Standesunterschied zwischen dem Fürstensohn und sich selbst akzeptierte, ja als selbstverständlich respektierte. Bald hatte sich zwischen ihnen ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt.
Der Warlord sah den durchtrainierten jungen Mann wohlwollend an. »Hashmat, ich habe eine Entscheidung getroffen, die von meinem Sohn Sayed unterstützt wird: Du wirst aus der Truppe herausgelöst und künftig nicht mehr im Lager wohnen, sondern hier im Hause. Ab sofort bist du nur noch mir verantwortlich, erhältst deine Befehle und Anweisungen nur von mir oder auch von Sayed.«
Hashmat beugte zum Dank kurz den Kopf und sah dann
Weitere Kostenlose Bücher