Die Nebel von Avalon
würde seiner Gemahlin die zarten Handgelenke brechen, aber Morgaine gab keinen Laut von sich. Sie biß die Zähne zusammen, und es gelang ihr, sich zu befreien. Sie sagte laut genug, daß Gwenhwyfar es hören mußte: »Viviane ist gestorben, ohne daß sie ihr Werk vollenden konnte. Und ich habe müßig zugesehen, wie Kinder, die damals noch nicht geboren waren, zu Männern heranreiften und zu Rittern geschlagen wurden. Und inzwischen ist Artus in die Hände der Kirchenmänner gefallen!«
»Herrin«, erklärte Accolon und neigte sich zu ihr, »auch Ihr könnt diesen heiligen Tag nicht stören. Sonst wird man mit Euch verfahren wie es die Römer mit den Druiden taten. Sprecht mit Artus unter vier Augen darüber. Tadelt ihn, wenn Ihr müßt… Ich bin sicher, der Merlin wird Euch unterstützen!«
Morgaine senkte den Blick und biß sich auf die Lippen. König Artus umarmte die Sachsenkönige einen nach dem anderen und hieß sie willkommen. Dann führte er sie zu Plätzen in der Nähe des Thrones. Er sagte: »Wenn Eure Söhne sich würdig erweisen, werde ich sie unter meinen Gefährten willkommen heißen.« Dann befahl er seinen Dienern, Geschenke zu bringen – Schwerter und kostbare Dolche und einen prächtigen Mantel für Adelric.
Morgause nahm ein Stück Kuchen, von dem der Honig tropfte, und steckte es Morgaine zwischen die zusammengepreßten Lippen. »Du übertreibst das Fasten, Morgaine«, erklärte sie, »iß das! Du bist so blaß, du wirst auf der Stelle in Ohnmacht fallen!«
»Nicht der Hunger treibt mir das Blut aus den Wangen«, erwiderte Morgaine, kaute aber folgsam den Kuchen und trank auch einen Schluck Wein. Morgause sah, wie ihre Hände zitterten. An ihrem Handgelenk sah man rote Flecken. Dann erhob sich Morgaine. An Uriens gewandt murmelte sie: »Seid unbesorgt, mein ach so geliebter Gemahl. Ich werde nichts sagen, was Euch oder Euren König beleidigen könnte.«
Dann wandte sie sich an Artus und sagte laut und vernehmlich: »Mein Gebieter und mein Bruder! Darf ich Euch um eine Gunst bitten?«
»Meine Schwester, die Gemahlin meines treuen Vasallenkönigs Uriens, darf mich um alles bitten«, erwiderte Artus herzlich. »Der geringste Eurer Untertanen, mein Gebieter, kann Euch um eine Unterredung bitten. Ich bitte Euch, mir eine Audienz zu gewähren«, erklärte sie. Artus hob die Augenbrauen, antwortete aber ebenso förmlich wie sie.
»Heute abend vor dem Schlafengehen, wenn es Euch beliebt. Ich werde Euch mit Eurem Gemahl in meinen Gemächern empfangen.«
Bei dieser Audienz möchte ich gerne eine Fliege sein,
dachte Morgause.
5
Morgaine saß im Gemach, das Gwenhwyfar König Uriens und seiner Familie zugewiesen hatte, und kämmte sich mit bleischweren Fingern, während eine Kammerfrau ihr neues Gewand schnürte. Uriens klagte, er habe zuviel gegessen und getrunken und könne gut auf die Audienz verzichten.
»Geht schlafen«, sagte sie. »Ich habe mit meinem Bruder zu reden. Es betrifft Euch nicht.«
»Nein, nein«, erwiderte Uriens. »Auch ich wurde in Avalon erzogen. Glaubt Ihr, es macht mir Freude mitanzusehen, wie die heiligen Dinge in den Dienst des Christengottes gestellt werden, welcher der Welt das Heilige Wissen rauben will? Nein, Morgaine. Nicht nur Ihr als Priesterin von Avalon sollt Euren Zorn darüber zum Ausdruck bringen. Es ist eine Beleidigung des Königreiches von Nordwales, und ich bin davon ebenso betroffen wie mein Sohn Accolon, der nach mir herrschen wird.«
»Mein Vater hat recht, Herrin.« Accolon sah sie an und sagte: »Unser Volk vertraut darauf, daß wir es nicht verraten und nicht dulden, daß in unseren heiligen Hainen die Kirchenglocken läuten…« Morgaine glaubte einen Augenblick lang, zusammen mit ihm in einem der magischen Haine vor der Göttin zu stehen. Uriens sah natürlich nichts. Er erklärte mit fester Stimme: »Artus soll wissen, daß das Reich von Nordwales nicht fügsam unter die Herrschaft der Christen fällt.«
Morgaine erwiderte achselzuckend: »Wie Ihr wollt.«
Wie töricht war ich,
dachte sie…
war Priesterin bei seiner Krönung… gebar Artus einen Sohn. Ich hätte die Macht nutzen sollen, die ich über das Gewissen des Königs besaß… Ich, nicht Gwenhwyfar hätte hinter dem Thron stehen und herrschen sollen. Während ich mich verkrochen habe, um wie ein Tier meine Wunden zu lecken, verlor ich meinen Einfluß auf den Bruder. Früher hätte ich befehlen können. Jetzt muß ich bitten, und mir steht nicht einmal die Macht der Herrin zu
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