Die Nebelkinder
tat, aber er kam nicht dazu. Ein scharfer Schmerz durchzog seinen Kopf und er hörte undeutliche Stimmen. So wie an jenem Abend, als Graf Chlodomer starb. Es waren nur Bruchstücke, die ihm rätselhaft blieben: ... Schutz im Nebel... Inselspitze ... bald erreicht... ein leichter Fang...
Gerswind hatte eine Hand ins Wasser gestreckt und spritzte ihn voll. »Schön kühl, nicht?«, jauchzte sie und bückte sich, um ihren Rock zu raffen und ihre Lederschuhe auszuziehen. Sie tauchte die nackten Füße ins Wasser, schlenkerte heftig und jauchzte abermals. »Hui, ist das frisch. Komm, Albin, mach mit!«
Er sah auf seine Füße und dachte daran, was Gerswind zu dem Anblick sagen mochte.
»Was ist, worauf wartest du?«, fragte sie.
»Ich will mich nicht verkühlen.«
»Nicht verkühlen, nur abkühlen«, lachte sie. »Bist du wasserscheu?«
Er antwortete nicht. Die Stimmen in seinem Kopf waren wieder da, lauter, aber auch schmerzhafter.
Vielleicht rührte der Schmerz daher, dass es mehrere Stimmen waren: Einfacher hätte es nicht sein können... Tochter des Grafen ... wie ein Hase, der daraufwartet, vom Fuchs geschnappt zu werden... auf dem Steg...
Auf dem Steg? Erschrocken blickte Albin das Mädchen an - die Tochter des Grafen! Plötzlich wusste er, was die Stimmen bedeuteten: Sie kamen, um Gerswind zu holen.
»Was hast du?«, fragte Gerswind. »Dein Gesicht ist so bleich wie ein Topf Milch. Ist dir nicht wohl?«
Die Antwort blieb ihm im Hals stecken, als er sah, was sich vor dem Steg aus dem Nebel schob: erst zwei, dann drei Boote. Schmale Einbäume mit kleinwüchsigen, aber kriegerisch wirkenden Insassen. Vier oder fünf von ihnen hockten in jedem Boot und trieben es durch kräftige Paddelbewegungen über den See. In dem Nebel wirkte es, als flögen die Boote über der Wasseroberfläche dahin.
Die Nebelkinder!
Ein Schauer lief über Albins Rücken, als er die Wahrheit erfasste. In den Booten saßen Elben. Und sie hatten es auf Gerswind abgesehen. Die Nebelkinder erschienen ihm seltsam verschwommen, wie geisterhafte Wesen aus einer fremden Welt. So, als hätten sich ihre grauen Leiber aus Nebelschwaden zusammengesetzt und wollten jeden Augenblick wieder mit dem Nebel zerfließen. Deshalb bemerkte er sie erst spät. Und Gerswind, die ihn anstarrte, hatte sie noch gar nicht gesehen.
»Warum siehst du so entsetzt drein, Albin?«, rief sie besorgt aus. »So antworte doch!«
Er schluckte den dicken Kloß, der seine Kehle verstopfte, hinunter und brachte trotzdem nur ein einziges gekrächztes Wort hervor: »Dort!« Er zeigte mit ausgestrecktem, zitterndem Arm über Gerswinds Kopf hinweg auf den See.
Zögernd drehte Gerswind ihren Kopf herum. Sie konnte nur noch einen unterdrückten Schrei ausstoßen, dann hatte das vorderste Boot sie erreicht. Ein Elb beugte sich vor und zog an ihren nackten Füßen. Sie fiel ins Wasser, wurde von weiteren Elbenhänden gepackt und ins heftig schwankende Boot gezerrt.
Als er Gerswind in höchster Gefahr sah, fiel die Erstarrung von Albin ab. Er wollte ins Wasser springen und versuchen, sie aus dem Einbaum zu holen.
Das wirst du nicht tun!, zuckte es wie ein jäher Blitzschlag durch seinen Kopf. Als hätte jemand seinen Gedanken gelesen und ihm geantwortet, ohne den Mund zu bewegen, ohne die Stimme zu benutzen. Der Befehl in seinem Kopf schien von einer unsichtbaren Faust begleitet zu werden, die Albin festhielt. Seine Füße versagten ihm den Dienst.
Er blickte in das Gesicht eines Elben. Ein strenges, entschlossenes Gesicht mit tief liegenden, großen Augen. Augen, die Albins Blick erwiderten, ihn in ihren Bann zogen und auf diese Weise die Wirkung des laudosen Befehls noch verstärkten. Unter einer dunklen Mütze quollen Strähnen feuerroten Haares hervor. Albin wusste nicht, ob dies der Mörder Graf Chlodomers war, den er nur von hinten gesehen hatte. Aber er ahnte, dass der rothaarige Elb in dem Boot etwas mit dem Tod des Grafen zu tun hatte. Es war keine Erkenntnis des Verstands, sondern des Gefühls. Und das sagte ihm: Sein Gegenüber mit den auf teuflische Weise willenlos machenden Augen gehörte zu den Rotelben, von denen Findig ihm erzählt hatte.
Albin schloss die Augen, weil er glaubte, nur so den fremden Bann abschütteln zu können. Und es gelang. Er rannte los, um am Ende des Stegs ins Wasser zu springen. Da schlug etwas heftig gegen seine Stirn und warf ihn zurück. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf die alten Holzbohlen.
Dummer Kerl!, war die Stimme - es
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