Die Nebelkinder
beherrschendes blasses Rot. Es war das Morgenlicht, das die Landschaft am Mondsee in seinen unwirklichen Schimmer tauchte. Er und Findig stiegen von der Pritsche. Beim Auftreten fuhr ein heftiges Stechen durch Albins linken Unterschenkel. Die Welt der Schmerzen und Gefahren hatte ihn wieder.
»Hier trennen sich unsere Wege«, verkündete der Barschalk. »Ich muss weiter Richtung Irrsee und das Korn auf die Felder dort bringen. Wohin euer Weg führt, geht mich nichts an. Ich wills auch gar nicht wissen. Aber ich wünsche euch Glück. Was bei der Verhandlung gestern geschehen ist, kann ich nicht gutheißen.«
»Hast du uns deshalb geholfen?«, fragte Albin.
»Nein, deshalb«, sagte Findig und zog ein Ton- fläschchen unter seiner Kutte hervor, das er Barthel reichte. »Genug für Herbst und Winter«, versicherte er dem Barschalk. »Du weißt, nur alle drei Tage ein paar Tropfen!«
Barthel nickte und errötete, was bei seiner Gesichtsfarbe nicht einfach war. Er steckte das Fläschchen in eine Ledertasche an seiner Seite und nahm ein Päckchen heraus, das er Findig reichte. »Für euch, Brot und Wurst, damit euer ärgster Hunger gestillt ist. Und glaubt mir, ich wünsche euch wirklich Glück!«
»Schon gut«, grinste Findig und schlug das Tuch auseinander, um den Inhalt zu begutachten. Seine spitze Nase stieß fast in die gebogene Wurst. »Ah, Wurst von der Schweineleber, die liebe ich. Eins muss man euch Menschen lassen, vom Wein und vom Essen versteht ihr was!«
»Ich werde das Lob meinem Weib ausrichten«, versprach Barthel und stieg auf seinen Karren. Er lächelte ihnen noch einmal zu und fuhr weiter in Richtung Irrsee, der, von zwei lang gestreckten Gebirgszügen eingerahmt, im Norden der Abtei lag.
Albin schaute sich um. Das Kloster befand sich eineinhalb Meilen von ihrem Standort entfernt. Der Mondsee war eine lang hingestreckte Fläche aus dunklem Violett, die sich irgendwo zwischen den Bergriesen verlor.
»Barthel weiß, dass wir Elben sind«, wunderte er sich. »Na, sicher doch«, meinte Findig, während er das Tuch wieder um Brot und Wurst schlug. »Sonst hätte er nicht den Elbentrank von mir erbeten. Schon seit vier Jahren nimmt er ihn zu sich und seitdem hat sein Weib schon drei Kinder zur Welt gebracht. Vorher wollte es damit nicht so recht klappen. Übrigens bin ich auch mit Bartheis Hilfe gestern Abend ins Kloster gelangt.«
Albin starrte dem Karren nach, der gerade hinter einer Baumgruppe verschwand. »Gibt es viele wie ihn ? Ich meine Menschen, die von euch ... von uns wissen und uns helfen?«
»Einige. Manche helfen uns aus gutem Willen, andere, weil sie unsere Heilmittel oder unsere Schmiedearbeiten erbitten. Früher gab es mehr Menschen wie Barthel, denen wir vertrauen konnten, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Aber Zwietracht, Neid und Hass entfremden Menschen und Elben immer mehr. Und weil wir zahlenmäßig gering sind, müssen wir uns weiter und weiter in die Berge zurückziehen. Die Rotelben tun ein Übriges, uns bei den Menschen in Verruf zu bringen. Beeilen wir uns, damit wir ihre Pläne durchkreuzen! Und damit wir unsere Haut vor den Verfolgern retten. Lange kanns nicht mehr dauern, bis deine Flucht entdeckt wird.«
Das Päckchen mit Brot und Wurst an sich gedrückt, lief Findig auf eine Senke zwischen zwei Hügeln zu. Sie führte nach Südwesten, wieder näher an den Mondsee heran. Albin ahnte, wohin Findig wollte: zur Drachenwand, hinter der das Land der Nebelkinder begann. Bartheis Weg hatte sie von ihrem Ziel weggeführt. Aber hätte er seinen Karren in eine andere Richtung gelenkt, hätte er Verdacht erregt. Findig blieb stehen und rief Albin zu, er möge endlich kommen.
Albin sah sich ein letztes Mal nach der Abtei um, bevor er in die buschbewachsene Senke eintauchte. Ihm war seltsam zumute. Auch wenn er hinter den Klostermauern die Todesstrafe zu befürchten hatte, fiel ihm der Abschied nicht leicht. Sein ganzes Leben hatte er in der Abtei verbracht. Die paar Wanderungen, die er mit Graman unternommen und die ihn in abgelegene Dörfer und Gehöfte geführt hatten, waren ihm damals wie Ausflüge in eine andere Welt erschienen. Doch das war ein trügerischer Eindruck. Seine Welt war immer klein gewesen, wie klein, das begann er jetzt zu erahnen, als er im Begriff stand, das unbekannte Land der Nebelkinder aufzusuchen. Er hatte am Mondsee sein Auskommen gehabt. Was die Zukunft für ihn bereithielt, wusste er nicht. Aber er wusste, dass er Findig folgen musste, wollte er
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