Die neue Historia des Dr. Faustus 01 - Der Engelspakt
aus dem Rücken geschnitten hatten, es mußte eine Art Zeichen sein, irgend etwas, das allen Engeln des Borgia gemein war.
Mit einem Mal taten sie mir nur noch unendlich leid.
Ausgenommen Angelina. Bei ihr wurde mein Mitleid zu einer Art zarter Zuneigung, trotz ihrer entstellten Züge und trotz der Geheimnisse, die sie umgaben.
Einer der Engel stürmte vorwärts und erklomm mit blitzschnellen Bewegungen den Baumstamm, in dessen Krone Angelina saß. In der Erinnerung scheint es mir fast, daß seine Hände und Füße wie die Beine eines Käfers an der Rinde hafteten, so schnell, so flink ging sein Aufstieg vonstatten.
Angelina wirbelte herum und schoß die Armbrust ab. Der Bolzen rammte in den schlanken Körper des Engelkriegers, gleich unterhalb seines Brustbeins, und schleuderte ihn zurück auf den Boden. Dort blieb er liegen, während ihm das Leben als schmales Rinnsal entfleuchte.
Ich erwartete, daß es zu einem Tumult kommen würde, einer Hetzjagd auf meine treue Gefährtin.
Doch zu meinem maßlosen Erstaunen blieben die übrigen Männer und Frauen vollkommen ruhig. Ich wechselte einen Blick mit Musil und dem anderen Gaukler. Fassungslos verfolgten sie das Geschehen. Sie begriffen längst nicht mehr, was wirklich um sie herum geschah, weshalb wer wen tötete.
Die Engelkrieger sahen sich untereinander an und wechselten lateinische Sätze. Ich verstand einige Bruchstücke; offenbar war ihre Verwirrung weit größer als ihr Wille, weiter gegen uns und Angelina zu kämpfen. Sie fürchteten uns nicht wirklich, natürlich nicht. Doch schien ihnen endlich die Erkenntnis zu dämmern, daß ohne DeAriel keiner mehr da war, der ihnen Befehle erteilte.
So trug zuletzt ihr Freiheitsdrang den Sieg aus diesem Kampf davon.
Ohne weiteres Blutvergießen oder kriegerische Gesten zogen sie sich zurück. Zwei hoben den toten Engel auf und nahmen ihn mit sich. Innerhalb weniger Herzschläge waren sie im Dickicht verschwunden. Nach einem Augenblick hörte ich hinter den Büschen das Hämmern von Pferdehufen, die sich eilig entfernten.
Schweigend wünschte ich ihnen Glück bei dem, was sie vorhatten. Ich nahm nicht an, daß sie zurück nach Rom gehen würden. Die Engel des Borgia waren frei, zumindest diese fünf. Wer aber wußte schon, wieviele von ihren Brüdern und Schwestern noch in den Gewölben des Vatikans auf ihren Einsatz warteten?
Die einzige, die eine Antwort darauf kannte, war stumm und schien weder lesen noch schreiben zu können. Es würde lange dauern, mehr über sie und ihr Leben zu erfahren. Suchend sah ich mich nach ihr um, doch Angelina war nirgends zu entdecken. Ich fürchtete schon, sie hätte sich den übrigen Engelkriegern angeschlossen, als sie auf einem Pferd aus dem Unterholz brach und langsam auf mich zutrabte.
Erste Regentropfen zerplatzten auf ihrem erstarrten Gesicht, während sich um uns die Nacht aus den Wäldern erhob. Ich versuchte, durch die verkrustete Maske ihrer Brandwunden zu blicken, und suchte nach Spuren jenes verletzlichen Wesens, das sich darunter verbarg. Sie machte es mir leicht und reichte mir ihre schmale Hand. Ihre weißen Finger waren kalt, und doch drang aus ihnen eine Wärme in mein Inneres, die mich auf dem ganzen Weg bis in die Stadt begleitete. Wir ritten nebeneinander, die beiden Gaukler irgendwo hinter uns. Es war bedeutungslos, daß wir nicht miteinander sprechen konnten.
Das Mädchen, das nicht lächeln konnte.
Ich fragte mich, ob sie weiter mit Faustus und mir reisen würde, in der Hoffnung, die Lösung aller Rätsel zu finden.
Ich wußte die Antwort, auch ohne daß Angelina sie aussprach.
ENDE
des ersten Bandes
Im September 1996 erscheint
Der Traumvater
Die neue Historia des Doktor Faustus, Band 2
Nachwort des Autors
Gewiß haben Sie es sofort bemerkt: Der Doktor Faustus dieses Romans hat wenig Ähnlichkeit mit dem Faust des Dichterfürsten Goethe. Wie Dutzende andere Autoren während der vergangenen Jahrhunderte hat sich auch Goethe einer Figur bedient, die Ende des 15. bis Anfang des 16. Jahrhunderts tatsächlich gelebt hat. Goethes Interpretation der Faust-Geschichte ist zweifellos die berühmteste, gefolgt von jenen Christopher Marlowes und Thomas Manns. Aber auch zahlreiche andere Autoren haben Romane, Dramen, Dialoge und Gedichte über Faustus verfaßt, manche bedeutend, andere trivial. Knapp siebzig Bearbeitungen des Themas habe ich während meiner Recherchen eingesehen. Zum Vergleich: Die Faust-Sammlung der Weimarer »Herzogin Anna Amalia
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