Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Fenster bezogen hatten, erhob sich nun Faustus von seinem Platz und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Er sah erst Nicholas, dann alle anderen der Reihe nach an.
»Nicholas hat recht«, sagte er, »es geht uns nichts an, was er in seinem Bett mit den Zwillingen treibt. Wenn er behauptet, die Kinder seien seine Töchter, dann sollten wir das akzeptieren. Mir scheint, wir nehmen ungewöhnlichere Umstände als gegeben hin.«
Ich glaube nicht, daß Faustus seine wahren Gedanken aussprach, doch er schien der Streiterei endgültig überdrüssig und verhalf ihr auf diese Weise zu einem vorläufigen Ende.
»Kommen wir endlich zur Sache«, verlangte er barsch. »Ariane, du bist als erste hier eingetroffen.«
»Vor zwei Tagen«, sagte sie mit sichtlichem Stolz.
»Dann weißt du vielleicht mehr als wir übrigen«, vermutete Faustus. »Es ist allmählich an der Zeit, daß wir herausfinden, weshalb der Vater uns hierhergerufen hat.«
Der Vater! Wen oder was er damit meinte, blieb ungewiß. Ich brannte darauf, endlich die Hintergründe zu erfahren. Wie es schien, hatten Angelina und ich eine gute Gelegenheit für unseren Ausflug zum Haupthaus gewählt.
Ich stützte mich mit einer Hand auf die Fensterkante. Ich hatte nicht bemerkt, wie spröde der Mörtel war. Der Stein löste sich.
Angelinas Hand schoß vor, um ihn aufzufangen, doch es war schon zu spät.
Der Stein prallte polternd auf den Boden.
Sofort preßten wir uns eng an die Mauer neben dem Fenster. Das Gespräch im Saal verstummte.
»Was war das?« fragte eine besorgte weibliche Stimme, die ich zum ersten Mal vernahm. Sie mußte der Frau mit dem aufgetürmten Haarschmuck gehören.
Stühle wurden gerückt. Nur noch wenige Augenblicke, und die ersten Gesichter würden sich aus dem Fenster schieben.
Ehe ich selbst einen Entschluß fassen konnte, riß Angelina mich bereits mit sich. Taumelnd rannten wir los, bogen um die Ecke und liefen an der Hausmauer entlang zur Rückseite. Dort stürmten wir die Freitreppe hinab, nahmen immer drei Stufen auf einmal. Ohne die Schlangen oder sonstige Gefahren zu beachten, hetzten wir durch den verwilderten Schloßgarten, durch zerfallene Torbögen, um Statuen und verödete Brunnen.
Endlich erreichten wir das Gästehaus.
Wir sprangen die Stufen herauf und wollten vom Flur in unsere Kammer treten, als wir bemerkten, daß aus der offenen Luke zum Dachboden sanfter Lichtschein fiel. Fragend blickten wir uns an, dann traten wir zögernd darauf zu.
Im selben Augenblick schnellte aus der Öffnung ein Gesicht. Kopfüber blickte es auf uns herab.
Es war ein junges Mädchen, und sein Haar war so lang, daß es wie ein Vorhang von der Decke herab bis zur Höhe meines Bauchnabels fiel.
Sie sah uns verdutzt an. »Wer, um alles in der Welt, seid ihr denn?«
***
Sie hieß Gwendolin – »aber nennt mich Gwen« – und erklärte uns, sie sei die Schülerin der berühmten Hellseherin Delphine. Nach Angelinas Blicken zu urteilen, sagte ihr dieser Name ebensowenig wie mir selbst. Trotzdem ließen wir Gwen in dem Glauben, daß ein jeder »diesseits und jenseits des Jenseits« ihre Herrin kennen müsse.
Sie schien mir ein rechter Wildfang zu sein, ein Eindruck, der von ihrer wildwuchernden Haarmähne noch verstärkt wurde. Sie redete viel und schnell und betonte jede Silbe mit weitschweifigen Gesten, vergnügtem Gekicher oder finster verkniffenen Augenbrauen. Sie war hübsch, auf eine sehr natürliche Art. Keine wirkliche Schönheit wie manche Edeldame; sie entsprach eher dem landläufigen Bild einer gewitzten Räubertochter oder Geächteten. Es fiel nicht schwer, sie zu mögen.
Ihre Herrin Delphine, so erklärte sie, verkehre oft an den Höfen der Mächtigen und sage ihnen die Zukunft voraus, ein Handwerk, für das sie gut entlohnt werde.
»Trägt deine Meisterin ihr Haar aufgetürmt zu so einem… nun, zu…« Mir fehlten die Worte, deshalb fuchtelte ich mit beiden Händen über meinem Kopf, um zu beschreiben, was ich meinte.
Gwen lachte fröhlich. »Das ist sie. Wo hast du sie gesehen?«
»Drüben im Haus«, erwiderte ich vorschnell.
Angelina verpaßte mir einen Stoß mit dem Ellbogen. Ich weiß nicht, ob sie Gwen mißtraute, doch auf alle Fälle schien es ihr ratsam, nicht jedem gleich alles zu offenbaren – womit sie zweifellos recht hatte.
Gwens Blick verfinsterte sich prompt. »Ihr wart im Haupthaus?«
Ich bemerkte, daß Angelina die Augen verdrehte, entschied aber dann, daß es zu spät zum Leugnen war.
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