Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
auch Furcht. Sie wußte nicht, was Nicholas als nächstes tun würde. Er brauchte sich nur zu ihr umzudrehen, dann war das Messer in Reichweite.
Nicholas aber blieb stehen, Blick und Klinge auf Faustus gerichtet. Doch seine Miene hatte an Bedrohlichkeit verloren.
»Er stiehlt uns unsere Träume?« fragte er zögernd. »Aber er war es doch, der sie uns geschenkt hat.«
»Nein«, widersprach Faustus. »Deine Träume gehören nur dir. Der Vater hat dich gelehrt, sie zu lesen, ihre Macht zu erkennen. Das war sein Geschenk. Nun aber hat er etwas anderes getan. Er hat direkt in unsere Köpfe gegriffen und hat die Träume herausgezerrt. Mach nicht den Fehler, zu glauben, er nehme nur das, was sein ist. Das stimmt nicht. Es sind deine Träume, Nicholas, unsere Träume, und was der Vater jetzt tut, widerspricht allem, was er uns damals beigebracht hat. Er rammt seine Macht wie ein Schwert in unsere Schädel und verändert das, was darin ist. Begreifst du, was ich meine? Begreift ihr es alle? Der Traumvater ist hier drin«, – er wies heftig auf seine Stirn –, »und er bestimmt, was darin vorgeht. Er ist es, der deine Klinge hält, Nicholas, nicht du!«
Jedes seiner Worte schien einen Sinn zu ergeben, und ich war sicher, daß Nicholas ihm allmählich glaubte. Faustus redete ihm ein, daß er Walpurga eigentlich gar nicht töten wollte, und er hatte Erfolg damit. Der Musiker geriet so durcheinander, daß er seine Wut zu vergessen schien.
Ich zweifelte allerdings, daß Faustus tatsächlich die Wahrheit sagte. Der Traumvater nahm seinen Schülern die Träume, gut, das mochte angehen; ich vermochte mir sogar vorzustellen, daß er die Handlungen des Mörders steuerte. Jedoch nicht durch Einfluß auf seine Gedanken, sondern durch die Macht über seine Träume. Bei allem, was ich bislang über den Vater gehört hatte, konnte es nur so sein: Er gaukelte einem von uns in seinen Träumen etwas vor, machte Versprechungen, stellte Ziele in Aussicht, die es durch den Tod der anderen zu gewinnen galt. Was voraussetzte, daß es einen Unterschied zwischen dem Mörder und allen anderen gab: Er träumte, sie nicht.
Angelina. Schwingen aus blitzenden Klingen. Nur ein Traum.
Mein Traum!
Die Erkenntnis ließ mich einen Moment lang erstarren, dann fand ich meine Beherrschung wieder. Ich schaute mich um, doch niemand hatte etwas bemerkt. Die Blicke aller hingen an Nicholas und Faustus.
Nicholas’ Drang, Walpurga zu töten, hatte nichts mit den Einflüsterungen des Traumvaters zu tun. Er wollte ihren Tod, weil sie die ermordeten Zwillinge beleidigt hatte. Das wiederum bedeutete, daß Nicholas seinem eigenen Willen folgte und keineswegs dem des Vaters. Auch Faustus mußte das wissen, doch der Einfall, Nicholas das Gegenteil vorzutäuschen, war großartig. So und nicht anders mochte er Schlimmeres vereiteln.
Wenn mein Gedanke richtig war, daß all jene nicht träumten, die unschuldig waren, dann hatten wir damit vielleicht ein Mittel in der Hand, um den Mörder zu erkennen. Nicholas hatte als erster davon gesprochen, daß er keine Träume hatte; er hatte nicht gewußt, welche Bedeutung dies haben mochte – deshalb konnte er nicht der Mörder sein. Gleiches galt für Faustus: Er hatte das Schema der Traumlosigkeit durchschaut und uns allen mitgeteilt – was auch gegen ihn als Schuldigen sprach. Blieben also Walpurga und Bosch. Und der verschwundene Adelfons Braumeister. Drei mögliche Täter.
Eine innere Stimme fragte hämisch: Und was ist mit dir, kleiner Wagner? Du träumst. Du könntest der Mörder sein.
Nein! Ich war kein Mörder. Ich wußte, was ich tat. Zudem war ich mit Faustus und Angelina zusammen gewesen, als die Zwillinge starben.
Es gab zwei weitere Personen, die ich in die Reihe der Verdächtigen einfügen mußte. Die eine war Angelina. Nachdem ich die obigen Regeln aufgestellt hatte, gab es wenig, was gegen ihre mögliche Schuld sprach. Und doch strich ich sie gleich von meiner Liste. Ich gestehe, mein Antrieb dazu entsprang allein den Gefühlen, die ich für sie empfand. Ich weiß sehr wohl, daß meine Annahme ihrer Unschuld weder logisch noch konsequent war. Ich blieb trotzdem dabei. (Und, immerhin, eines bestätigte ebenso ihre Arglosigkeit wie meine eigene: Auch sie war im Bankettsaal gewesen, als die Mädchen ermordet wurden.)
Die letzte schließlich, die als Täterin in Frage kam, war Gwen. Sie war seit Tagen verschwunden, niemand wußte wohin. Versteckte sie sich irgendwo im Schloß? War sie es, die des Nachts auf
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