Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
zweifelte nicht, daß er im Garten Schutz suchen wollte. Dort draußen gab es tausend gute Verstecke.
Wir bogen gerade in den Saal, als der Flüchtige eines der großen Fenster aufriß. Kaltes Mondlicht flutete herein und umspielte einen zarten Körper.
Großer Gott, das war unmöglich!
Unser Gegner wollte hinaus auf die Balustrade springen, keuchend, völlig außer Atem, doch dabei verhakte sich sein Fuß am Fensterrahmen. Mit einem Aufschrei stürzte er draußen auf den Stein.
Angelina wurde noch schneller und sprang mit einem gewaltigen Satz durch das offene Fenster. Breitbeinig landete sie auf dem Weg, der oberhalb des Sockels ums Haus führte. Sie fuhr herum und setzte dem anderen die Schwertspitze an die Kehle. Einen Augenblick später war ich neben ihr und begriff endgültig, wer da vor uns lag.
Es war eine Tote. Und doch war sie lebendig. Ihr Blick war finster, das hochgesteckte Haar zerzaust.
Delphine starrte uns wutentbrannt an. Ihr Atem raste.
Sie trug nicht mehr das weite Kleid, in dem die anderen sie beigesetzt hatten. Ihre Beine steckten in schwarzen Hosen, den Oberkörper hatte sie mit einem ledernen Wams umzurrt.
Angelinas Schwert ritzte ihre Haut, ein einzelner Blutstropfen rollte glitzernd über den Stahl. Delphine war besiegt, endgültig.
Ich wollte etwas sagen, doch kein Ton drang aus meiner Kehle, als könnte jedes gesprochene Wort die Illusion unseres Sieges zerstören.
Ich sah wieder ihre angebliche Leiche vor mir, blutüberströmt, mit verrenkten Gliedern. Und noch etwas fiel mir ein. Faustus, der sich über sie beugte, sie untersuchte und sagte: Sie ist tot. Dabei hatte er die Wahrheit erkennen müssen.
Doch Faustus hatte gelogen.
Er hatte gewußt, daß Delphine den Mord nur vortäuschte. Trotzdem hatte er den Betrug unterstützt. Schlimmer noch: Er und die Hellseherin mußten Verbündete sein. Es gab keine andere Erklärung.
Faustus hatte uns die ganze Zeit über etwas vorgespielt.
»Wagner!«
Jemand hinter mir rief meinen Namen. Ich wußte, wer es war, bevor ich mich umdrehte.
Mein Meister stand am anderen Ende der Balustrade, eine schwarze, hochaufragende Gestalt. Jetzt kam er langsam auf uns zu. Ein Windstoß fuhr unter seinen Mantel, hob den Stoff vom Boden. Und ich erkannte, daß da noch jemand war. Plötzlich war mir eiskalt.
Hinter Faustus stand der Traumvater.
Kapitel 6
Er blieb stehen, während Faustus auf uns zu trat. Der Traumvater sah genauso aus wie an jenem Abend, an dem wir ihn auf der Gondel gesehen hatten. Er war nackt, jung, muskulös. Das gleiche verschlungene Muster, das er auf dem Rücken trug, zierte auch seine haarlose Brust. Er stand da, etwa zwanzig Schritte von uns entfernt, die Arme verschränkt. Der Schatten eines steinernen Fauns, der auf dem Eckpfosten der Balustrade hockte, lag wie zufällig über seinem Gesicht. Seine Züge blieben völlig im Dunkeln. Und doch wußte ich, daß sein Blick mich erfaßte und prüfte. Ich fragte mich, ob ich jemals wieder träumen würde.
Faustus blieb vor uns stehen. »Steck dein Schwert ein«, wies er Angelina an.
Sie dachte nicht daran, zu gehorchen. Die Spitze ihrer Waffe deutete starr auf Delphines Kehle. Ihre Zweifel an Faustus schienen nicht geringer als die meinen.
»Bitte«, fügte Faustus hinzu, »laß sie aufstehen.«
Angelina starrte erst ihn, dann die am Boden liegende Delphine an. Die Hellseherin sagte noch immer kein Wort, doch ihr war anzusehen, wie sehr ihr diese Lage mißfiel.
»Meister«, sagte ich, als ich endlich meine Sprache wiederfand, »Ihr seid uns eine Erklärung schuldig.«
Eine Erklärung – das war ein schwaches, belangloses Wort angesichts dessen, was sich dahinter verbergen mochte. Der Tod all dieser Menschen. Der Teil meines Meisters an der Schuld. Die Wahrheit über Delphine.
All das verlangte viel mehr als eine Erklärung.
Faustus lächelte bemüht. »Ihr müßt Euch nicht fürchten.«
Damit weckte er meinen Trotz. »Warum sollten wir auch? Weil die Mörderin geschlagen am Boden liegt? Weil Ihr mit ihr unter einer Decke steckt?« Erst als ich die Worte ausgesprochen hatte, begriff ich, welches Wagnis ich damit einging. Aber ich war zornig, und, zum Teufel, ich hatte das Recht dazu.
»Ich verstehe deine Wut«, erwiderte Faustus ruhig. Doch seine Milde wirkte aufgesetzt und keineswegs ehrlich, als fühlte er sich selbst einem unausgesprochenen Druck ausgesetzt.
Im selben Moment trat der Traumvater einige Schritte nach vorne, kam aber nicht auf uns zu, sondern wandte
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