Die neue Lustschule
Die tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Theoreme psychosozialer Erkrankungen müssen das körperliche Korrelat von Störungen der orgastischen Potenz unbedingt mit berücksichtigen. So kann ich mir eine seelische Tiefenarbeit nicht mehr ohne die körpertherapeutische Dimension vorstellen. Im Körper sind alle psychischen und sozialen Probleme des Menschen abgebildet und auch verankert. Körperpsychotherapeutische Interventionen, die vor allem Muskelblockaden und damit auch Gefühlsstau auflösen helfen, werden dadurch unverzichtbar. Trotz jahrelanger Erfahrungen ist es für mich immer wieder faszinierend und überraschend, wenn sich akute körperliche Beschwerden in einem Gefühlsprozess auflösen lassen oder körperliche Erkrankungen auf einen psychischen Hintergrundund gestörten Energiefluss bezogen und auf körperpsychotherapeutischen Wegen gebessert oder sogar geheilt werden können.
Beziehungsstörungen – vor allem solche, die schon auf die frühe Kindheit zurückgehen und mit psychischen Abwehrvorgängen, Gefühlsbeherrschung und -unterdrückung einhergehen – manifestieren sich stets auch körperlich, etwa durch Muskelverspannungen und muskuläre Gegenreaktionen, sobald sich Gefühle ankündigen. Wenn man Grund hat, am liebsten zuschlagen oder weglaufen zu wollen, wenn man schreien möchte vor Ungerechtigkeit oder Sehnsucht und bitterlich weinen müsste, weil man so unverstanden und verlassen bleibt – aber das alles nicht darf, weil dadurch alles nur noch schlimmer würde –, muss man diese Gefühlsimpulse zurückhalten und sich selbst verbieten. Ohne muskuläre Bremse aber kann man weder Wut noch Schmerz, noch Trauer beherrschen. So zwingt die Gefühlsbeherrschung den Menschen in einen Muskelpanzer, in ein Korsett der emotionalen Hochladung, die nun andere Ventile benötigt und sucht. Das sind dann unsere Beschwerden, Erkrankungen und die vielfältigen Ablenkungen und Beschäftigungen, die übertriebenen Anstrengungen und Leistungen, mit denen wir uns unnötig und sinnlos belasten, um aufgestaute Energie auf irgendeine Weise ersatzweise zu verbrauchen.
Volle «orgastische Potenz» bleibt heutzutage ein kaum noch erreichbares Ziel, zu sehr wird unser Sexualleben durch beziehungsdynamisch-erzieherische und sozialökonomische Entfremdung beeinflusst. Wer verstanden und vielleicht auch schon erlebt hat, dass nicht häufiger Geschlechtsverkehr, eine größere Anzahl von Sexualpartnern, vielfältige Sexualtechniken und die Anwendung von allerlei Sexspielzeug die orgastische Potenz ausmachen und verbessern können, der beginnt vielleicht, an seiner wirklichen Lustfähigkeitzu arbeiten. Dabei ist es ganz wichtig zu verstehen, dass «orgastische Potenz» keine «Zielmarke» ist, sondern immer nur ein Bemühen um Luststeigerung unter Berücksichtigung dynamischer Vorgänge sein kann. Das heißt ganz einfach: mal mehr, mal weniger Lustfähigkeit. Aber die Unterschiede lassen sich analysieren und in ihren Zusammenhängen und Hintergründen verstehen – eine gute Basis, um die Lustvoraussetzungen zu verbessern. Das ist körperlich eine sehr angenehme Aufgabe und beziehungsdynamisch immer lohnend, wenn damit Stagnation, Langeweile, erotisches Desinteresse und Konflikte vermindert werden können.
Will man Sexualspannung aufbauen, halten und auf das Genital konzentrieren, ist dazu eine relative Freiheit von anderen Spannungen – vor allem von Konfliktspannungen und Stresssituationen – so notwendig wie hilfreich. In der frühkindlichen Entwicklung folgt nach psychoanalytischem Verständnis die genitale Lustfähigkeit der «oralen» und «analen» Befriedigung. Das heißt übersetzt, dass alle ungelösten oralen Bedürfnisse – also nicht gut versorgt worden zu sein, und zwar nicht nur mit Nahrung, sondern vor allem auch mit liebevoller Zuwendung, mit Einfühlung und Bestätigung – ein Befriedigungsdefizit hinterlassen, mit der Folge, dass der Betreffende so vehement auf Versorgung und Liebe aus ist, dass er sich sexueller Aktivität kaum zuwenden kann. Ein möglicher Erregungsaufbau landet deshalb kaum in den Genitalien, sondern bleibt «oral», im weiteren Sinne zuwendungs- und liebesbedürftig. Auch in der Sexualität will man dann versorgt werden. Und im engeren Sinne stehen Essen, Trinken, Rauchen, Reden, Lecken, Saugen oder «Blasen» stärker im Vordergrund als die eigentliche genitale Lust.
Mit «anal» ist die Fähigkeit gemeint, hergeben, loslassen und auch zurückhalten und darüber
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