Die neue Lustschule
sondern eher ein Hinweis darauf, dass eine lustvolle Hingabe an die Entspannung nicht gelingt, mit der Folge, dass Erregungsspannung zurückbleibt, die immer wieder abgeführt werden möchte, ohne dass die zugrunde liegenden Hemmnisse erkannt würden. Wer also besonders häufig will und kann, sollte mit angeberischen Äußerungen zurückhaltend sein, da darin eher Not und Störung zum Ausdruck kommen können als echte Potenz.
Bei der Suche nach der Energiequelle, nach dem körperlichen Kern seelischer Erkrankungen, ist Wilhelm Reich auf die Funktion des Orgasmus gestoßen, durch den der Energieausgleich gesichert werden kann. Spannungen werden dadurch abgeführt und dem Entstehen neurotischer Symptome wird Energie entzogen.
Zur orgastischen Potenz gehören ein
sensorisches
und ein
motorisches Lusterleben
. Am Anfang der sexuellen Aktivität steht die Phase der willkürlichen Beherrschung der Luststeigerung. Dafür können alle Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Berühren) eingesetzt werden. Die Sexualpartner sollen sich möglichst auf die Erregung ihrer Genitale konzentrieren können, mit dem wachsenden Drang beim Mann, eindringen zu wollen, und bei der Frau, aufnehmen und einsaugen zu wollen. Beide Partner sind idealerweise einander zärtlich zugewandt, ohne feindselige, aggressive, rachelüsterne oder sonstwie abwertende Gedanken. Reden, Lachen und Rauchen werden überflüssig – nur aufreizende, aufgeilende erotische Bestätigungen werden evtl. gewechselt – undalle bestehenden Unstimmigkeiten verlieren vorübergehend völlig an Bedeutung. Beide Partner sind aktiv. Durch Stellungswechsel, Veränderung des Rhythmus und vielfache Berührungen wird die genitale Erregung langsam gesteigert, ohne Hast und Härte. Die lustvollsten Bewegungen sind meistens langsam, ruhig, bestimmt und ohne Anstrengung. Bei kleinen Ruhepausen und Initiativwechsel bleibt die Erregung erhalten und kann sich über den ganzen Körper ausbreiten, was durch trockene Wärme, Rötung, «Strahlung» und sensorische Empfindungszunahme bis hin zur «Gänsehaut» wahrgenommen wird. Wie lange diese Phase zeitlich ausgedehnt wird, hängt vom Wunsch der Beteiligten ab, von den äußeren Umständen und vor allem von der Fähigkeit, lustvolle Erregung anwachsen zu lassen und halten zu können – fünf Minuten bewusste Luststeigerung sind relativ kurz, sechzig Minuten vielleicht relativ lang.
Dann folgt mit der Phase der unwillkürlichen Muskelkontraktion das
motorische Lusterleben
, das nur Sekunden anhält. Die Erregung lässt sich nicht mehr regulieren und beherrschen, sie erfasst die ganze Persönlichkeit und strömt jetzt vom Genital ab. (Es existiert dazu ein schönes «Bild»: Anfangs wedelt der Hund mit dem Schwanz, dann wedelt der Schwanz mit dem Hund.) Das Abströmen der Erregung durch die Muskelkontraktionen der Genital- und Beckenbodenmuskulatur bedingt das lustvolle Gefühl der Entspannung. Dabei können sich rhythmische (nicht krampfhafte) Muskelkontraktionen über den gesamten Körper ausbreiten – was die lustfeindliche Sozialisation in unserem Kulturkreis kaum noch zulässt. Auf jeden Fall aber kommt es zu einem Rückströmen der Erregung vom Genital auf den ganzen Körper, wodurch die aufgestaute Spannung abfällt. Im Moment der Akme – des Erregungshöhepunkts mit Beginn der Muskelkontraktion, die auch den Samenerguss bewirkt – bestehteine relative Bewusstseinsverengung – vollständig auf das Lusterleben konzentriert, auch innerlich weg vom Partner, weshalb die Franzosen auch vom «kleinen Tod» –
le petit mort
– sprechen. Wobei gute Entspannung dann wieder zur lebendigen Dankbarkeit gegenüber dem Partner hinführt.
«Orgastische Potenz» lässt sich also an der Möglichkeit und an der Fähigkeit messen, Sexualspannung auf das Genital zu konzentrieren, sodann die Unwillkürlichkeit des Abströmens von Energie zuzulassen und die affektive Aufmerksamkeit – trotz eventuell vorhandener Konflikte – vollständig auf das lustvolle Geschehen zu richten. Zuerst das aufladende energetische Hinströmen zu den Genitalien, danach das entladende Abströmen zur Peripherie, zum Partner und «in die Welt». Die Potenz lässt sich dann indirekt an der nachfolgenden wohligen Entspannung, am Ruhe- oder Schlafbedürfnis und einer dankbaren, zärtlichen und gesättigten Zuwendung zum Partner ablesen.
Diese Erkenntnisse haben mein psychotherapeutisches Verständnis und vor allem die therapeutische Praxis entscheidend beeinflusst.
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