Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
greifen zehnmal häufiger auf die regelmäßige medizinische Kontrolle und Hilfeleistung zurück als Frauen mit einem Volksschul- oder Hauptschulabschluss.
In einer Hinsicht ist die Ungleichheitsdimension allerdings entschieden und erfolgreich bekämpft worden: Das ist die Behandlung von Behinderten. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hing ihre Beschäftigung vom individuellen Wohlwollen des Personalchefs oder sogar des Unternehmers ab. Ihre Lage auf dem Arbeitsmarkt war daher mehr als prekär und kam oft genug einer Exklusion gleich. Inzwischen ist sie aber durch gesetzliche Intervention weitgreifend verbessert worden. In der Privatwirtschaft und im Staatsapparat wird bei der Gleichwertigkeit von Kandidaten fast schon regelmäßig der behinderte Konkurrent gewählt. Diese rundum erfreuliche Entwicklung zeigt die humanen Züge des demokratischen Sozialstaats.
Die drastischen Unterschiede im Verhalten gegenüber Gesundheit und Krankheit sind in erster Linie kein Ergebnis der Einkommensverhältnisse, obwohl teurere, aber vielversprechendere Behandlung oder Medizin den Privatpatienten ungleich leichter zustatten kommen können als Mitgliedern der gesellschaftlichen Pflichtversicherung. Ausschlaggebend ist vielmehr, wie etwa auch im Bereich der Bildung, die mentale Öffnung oder Sperre, denn das vorzügliche deutsche Gesundheitssystem kommt seit langem materiell denkbar unterschiedlich gestellten Patienten zustatten. Wegen dieser Mentalität, die das Gesundheits- und Krankheitsverhalten reguliert, indem sie es positiv oder aber auch negativ beeinflusst, trifft die bittere Schlagzeile oft genug zu: Wer arm ist, muss früher sterben. Eine neue Studie hat soeben festgestellt, dass in Deutschland im Hinblick auf die Lebenserwartung zwischen dem obersten und dem untersten Quintil ein Unterschied von elf Jahren bei den Männern, von acht Jahren bei den Frauen besteht. Drastischer könnte der Beweis für die Kluft nicht ausfallen.
11.
Die Ungleichheit der Wohnbedingungen
Die Ungleichheit der Wohnbedingungen drückt sich auch in der Bundesrepublik in der sozialräumlichen Ordnung aus: in der Segregation der Bevölkerung nach Klassen und Ethnien, in der Siedlungsstruktur, der Raumnutzung und der Eigentumslage. Insofern ist die Wohnsituation ein markanter Bestandteil der durch Ungleichheit geprägten Sozialstruktur. Wenn z.B. seit 1910 in Deutschland der Prozentsatz der rasch wachsenden städtischen Bevölkerung, der in Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern lebte, deutlich größer war als derjenige Anteil, der in ländlichen Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern wohnte, drückte sich darin im Vergleich mit der von Grund auf andersartigen Lage 50 Jahre zuvor der dramatische sozialräumliche Wandel aufgrund des beschleunigten Urbanisierungsprozesses aus, der nicht nur die Lebensweise, sondern auch die Mentalität der Bevölkerung umgeformt hat.
Hatte sich bis 1945 der Vorrang der industriell induzierten Verstädterung gehalten, setzte sich seit den späten fünfziger Jahren eine von der rasanten Expansion des Dienstleistungssektors getragene «tertiäre Verstädterung» durch. Sie verband sich mit einer beispiellosen Ausdehnung der städtischen Agglomerationen in das ländliche Umfeld, die von der Kritik als «Zersiedlung» angeprangert wurde. Diese, wie es lange Zeit schien, unaufhaltsame Ausbreitung besaß einige kraftvolle Ursachen. Die Motorisierung erlaubte es vielen Interessenten, sich den tief sitzenden Wunsch zu erfüllen, «im Grünen» zu wohnen. Die Realisierung dieser Absicht wurde durch den Rückgang der Landwirtschaft und die Auflockerung der dörflichen Besiedlung ganz so unterstützt wie durch die mit dem Ausbau des Dritten Sektors zusammenhängende Neigung, den Rückzug aus den verödeten Innenstädten anzutreten. Neue Wohnquartiere entstanden auch deshalb massenhaft am Stadtrand, weil dazu erstmals rational durchgeplante, in industriell standardisierter Bauweise errichtete Wohnhochhäuser gehörten.
Als seit der Mitte der 70er Jahre die Kritik an der «Unwirtlichkeit unserer Städte» (A. Mitscherlich) laut wurde, kam der Übergang zu einer aufgelockerten Form der Suburbanisierung in Gang. Auch dadurch verwandelte sich das Stadt-Land-Verhältnis weiter, da die Ausdehnung der städtischen Besiedlung in die Agrargebiete anhielt, während die Kernstädte mit dem anhaltenden Abzug von Wohnbevölkerung zu kämpfen hatten. Schließlich wohnte die Hälfte der Bundesbürger in städtischen
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