Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Agglomerationen, die weit über das ursprüngliche Weichbild und die rechtlichen Gemeindegrenzen hinaus vordrangen, während nurmehr 14 Prozent in streng ländlichen Räumen wohnten.
Eingebettet in die neue Urbanisierungswelle veränderten sich auch die Wohnweisen. Die Wohnung kann unter vier Aspekten gesehen werden. Zum einen ist sie ein soziales Gehäuse, in dem die Familie dominiert. Im Kontrast zum Berufsleben ist sie, zum zweiten, der genuine Ort der Freizeit. Sie ist, zum dritten, die Domäne der Privatheit, das Gegenteil der öffentlichen Sphäre. Und sie ist, viertens, eine gekaufte oder gemietete Ware. In der Bundesrepublik befanden sich bis 1990 vier Fünftel der Wohnungen in Privateigentum. 70 Prozent von ihnen sind erst nach 1945 entstanden, nur 18 Prozent vor 1918 gebaut worden. Der Trend zum Eigenheim oder wenigstens zur Eigentumswohnung ist als gesellschaftspolitisches Ziel der westdeutschen Wohnungsbaupolitik frühzeitig anerkannt worden. Damit sollte die Familie als «Urzelle» der Gesellschaft unterstützt, durch das individuelle Eigentum die antikollektivistische Ordnung gestärkt werden. Konsequent wurde die Unverletzlichkeit der Wohnung als Menschen- und Bürgerrecht durch das Grundgesetz (Art. 13) geschützt.
Vor dem Frühjahr 1945 war auf dem Boden der Bundesrepublik von zehn Millionen Wohnungen ein Viertel zerstört worden. In manchen Großstädten hatte der Bombenkrieg den Bestand sogar um zwei Drittel reduziert. Pro Kopf standen danach in der Britischen Zone 6.2, in der Amerikanischen Zone 7.6 qm zur Verfügung. Diese Wohnfläche wurde bereits bis 1950 verdoppelt, bis 1980 auf 34 qm gesteigert, nach 2000 erreichte sie 41.6 qm. Diese Steigerung war außer dem privaten Bauboom auch den Leistungen des staatlich geförderten, mit reduzierten Mieten arbeitenden Sozialen Wohnungsbaus zu verdanken. Er galt geradezu als ein «Eckpfeiler des Sozialstaats» seiner Zeit, als Skeptiker 60 Jahre veranschlagten, bis der Wohnungsstand von 1935 wieder erreicht sei.
Schon das einhellig verabschiedete Wohnungsbaugesetz von 1950, das innerhalb von sechs Jahren 1.8 Millionen Sozialbauwohnungen schaffen sollte, ging von der Notwendigkeit eines aktiven staatlichen Engagements aus. Denn dem Kapitalmangel wegen der zu geringen Rendite des Bauens, der Lohndämpfung, und der befürchteten Radikalisierung des Millionenheers von Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgebombten sollte mit diesem staatsplanerischen Element in der Marktwirtschaft entgegengewirkt werden. Die gesetzlich fixierten Mieten im Sozialen Wohnungsbau lagen unter zehn Prozent der Lebenshaltungskosten der Arbeitnehmer, fielen also deutlich geringer aus als die Mieten vor 1939 (13 %) oder vor 1914 (14 %).
Im Rahmen dieses staatlichen Programms wurden im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik, als rund sechs Millionen Einheiten fehlten, jährlich 295.000 Wohnungen (jeweils 55 % aller Neuzugänge) erbaut, in den 60er Jahren waren es noch immer jährlich 209.000 (37 %). Erst als bis 1973 3.1 Millionen Wohnungseinheiten auf diese Weise entstanden waren, setzte ein ziemlich steiler Abfall ein. Dennoch: Um 1980 erreichte die Anzahl der Wohnungen fast die Summe aller Haushalte.
Die Größe und der Komfort waren inzwischen seit den kärglichen Anfängen in den späten 40er Jahren kontinuierlich gestiegen. Bad, WC, Zentralheizung, Einbauküche, Waschmaschine, Telefon und Fernsehgerät gehörten bis dahin zur Standardausrüstung. Die Nutzung der Wohnfläche unterlag einer klaren Polarisierung. Auf die Personen im oberen Quintil entfielen 1987 43.1 qm, auf die des unteren dagegen nur 31.1 qm. Die Eigentumsquote lag oben bei 51.5 Prozent, unten bei 29.6 Prozent; und auch die Mietbelastungsquote fiel im ersten Quintil ungleich niedriger aus als im fünften. Für die Bruttokaltmiete mussten in diesen Stichjahren im fünften Quintil 32.7 Prozent der Einkommen ausgegeben werden, im ersten Quintil fielen dafür nur 15 Prozent an.
Die beiden Mobilitätsprozesse der Abwanderung aus den Innenstädten und die Zuwanderung an die Peripherie hingen, wie vorn erwähnt, eng zusammen. Der Verlust an Wohnbevölkerung im traditionellen Kern der großen Städte war die Folge eines Bündels von Faktoren. Da wirkten sich die überhöhten Baupreise als Sperre gegen erschwingliche neue Wohnungen und Geschäfte aus. Die standardisierte Warenwelt in den allgegenwärtigen Filialen der Kaufhausketten förderte die Sterilisierung der Wohnqualität, damit auch die Verödung
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