Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
In den zwanzig Jahren von 1972 bis 1992 stieg die Anzahl der erstgenannten Partnerschaften von 137.000 auf mehr als eine Million, die durch eine Dunkelziffer wahrscheinlich noch erheblich vergrößert wurde. Die Zahl von Alleinstehenden unterhalb des 25. Lebensjahres kletterte in den dreißig Jahren bis 1987 schon auf 978.000. In den Alterskohorten der 25- bis 45-jährigen versechsfachte sie sich in dieser Zeit. 1992 gab es zudem nur 1.2 Millionen Alleinerziehende, deren erdrückende Mehrheit von 880.000 Frauen gestellt wurde. Und während 1970 die Wohngemeinschaften noch in ihrer Anfangsphase steckten, stieg ihre Zahl bis 1990 auf 1.92 Millionen.
Diese Differenzierung der Lebensformen lässt sich offenbar nicht auf eine kurzlebige Modeströmung reduzieren. Vielmehr kann sie als symptomatisch für einen tiefgreifenden Gesellschaftswandel gelten. Auf ihn wirkten sich aus:
– die Liberalisierung der Moralvorstellungen und Sexualnormen;
– der Wohlstandsanstieg und die sozialstaatliche Absicherung, die beide einen eigenen Haushalt auch in jungen Jahren ermöglichen;
– die Postadoleszenz der Jugendlichen, denn die Phase halber Selbstständigkeit vor dem Berufsleben hat sich ständig ausgeweitet; sie begünstigt auch das Leben in einer Wohngemeinschaft;
– die im Verlauf des Emanzipationsprozesses von Grund auf veränderte Soziallage und Mentalität junger Frauen.
Aus den zahlreichen Aspekten dieser Veränderungen, die immer mehr junge Frauen im Berufsleben mit einem selbstständigen Einkommen hervorgebracht haben, sei nur herausgegriffen, dass junge Frauen im Durchschnitt mit 21.2 Jahren rund 2.7 Jahre früher aus der elterlichen Wohnung in die Selbstständigkeit ziehen als junge Männer, die dann 24 Jahre alt sind.
Ob Lebenspartnerschaften oder Wohngemeinschaften innerstädtische Wohnungen mit preiswerter Miete bevorzugen und ob die meisten Alleinerziehenden und zahlreiche Singles am Rande pauperisierter Lebensverhältnisse existieren, so dass sie überwiegend die Ungleichheit der Wohnbedingungen zementieren, lässt sich noch nicht klar erkennen. Die Lockerheit der Lebensabschnittsgemeinschaften und die vorübergehende Attraktivität studentischer Wohngemeinschaften sowie die extrem schwierige Situation alleinerziehender Mütter unterstützen aber eher die Dauerhaftigkeit der Sozialhierarchie, als dass sie diese, wie einige Ideologen des freien Lebens behauptet haben, unterlaufen oder gar aufheben könnten.
12.
Die ethnisch-kulturelle Ungleichheit
Es ist eine zählebige Legende, dass Deutschland lange Zeit kein Zuwanderungsland gewesen sei. Denn bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war es das Ziel einer massenhaften Migration. Bis 1914 zogen etwa 450.000 Polen und Masuren aus dem Osten in die deutschen Industriestädte, vor allem in das Ruhrgebiet, wo große polnische Gemeinden entstanden. Nach der Entstehung eines neuen polnischen Staates und wegen der Folgen des Ersten Weltkriegs setzte nach 1918 eine Abwanderung nach Polen und Nordfrankreich ein, so dass rund 200.000 polnische Bergarbeiter wieder abzogen. Im Süden gab es eine nicht unerhebliche Population von italienischen Arbeitsmigranten, die insbesondere in das Baugewerbe strömten. In beiden Weltkriegen holte das Deutsche Reich Millionen von ausländischen Zwangsarbeitern in seine Wirtschaft. Doch erst seit den späten 50er Jahren begann der neue Zuzug sogenannter Gastarbeiter.
Bei ihnen handelte es sich an erster Stelle um angeworbene Italiener, Spanier und Griechen, die der wirtschaftlichen Misere in ihren Heimatländern entkommen wollten. Die Mehrzahl wanderte, als dort der ökonomische Aufschwung die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt belebte, wieder zurück. Aber die in Westdeutschland verbleibenden ehemaligen Gastarbeiter waren im Ausstrahlungsbereich der europäischen Kultur groß geworden, hingen überwiegend dem christlichen Glauben an und erwiesen sich als relativ leicht integrierbar. Sie lebten in städtischen Mischquartieren, verweigerten nicht das Konnubium mit deutschen Frauen und Männern, schickten ihre Kinder zur Volksschule, auf das Gymnasium und die Universität. Nirgendwo hat es mit ihnen gravierende Akkulturationsprobleme gegeben.
Das änderte sich von Grund auf, als nach dem Mauerbau von 1961 und damit dem Versiegen des ostdeutschen Flüchtlingsstroms die türkische Migration sprunghaft in die Höhe kletterte. Ganz überwiegend kamen die türkischen Gastarbeiter aus den anatolischen Armutsgebieten. Sie entbehrten
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