Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
jeder Qualifikation und Sprachkenntnis, traten also auf der untersten Stufe als ungelernte Arbeiter in den deutschen Produktionsprozess ein. Die Unternehmen trafen damit eine fatale Entscheidung: Anstatt die maschinelle Produktionsweise anzukurbeln, was mit ihren finanziellen Ressourcen durchaus möglich gewesen wäre, setzten sie auf eine arbeitsintensive Produktion mit preiswerten, flüchtig angelernten Arbeitskräften. Die Stadtverwaltungen nutzten ebenfalls das Angebot, so dass die Müllarbeiter auf einmal überwiegend türkischer Herkunft waren. Um die Ausbildung im Sinn einer funktionalen Qualifikation haben sich offenbar nur extrem wenige Betriebe gekümmert. Daher blieb unter dem Millionenheer der türkischen Gastarbeiter die Anzahl der unqualifizierten Arbeitskräfte dominant. Sie wurden folgerichtig auch als Erste von der Arbeitslosigkeit betroffen. Die Arbeitgeber nutzten die billigen Arbeitskräfte, bürdeten aber ungerührt der Gesellschaft die enormen Folgekosten auf, an die sie jetzt nur ungern erinnert werden.
Zwar gab es einen Anwerbestopp als Reaktion auf die massenhafte türkische Zuwanderung, doch alsbald wurde er durchlöchert. Die Zuwanderung von Familienangehörigen und die in der Regel durch Verwandte vermittelte Heirat sehr junger anatolischer Mädchen, die bis vor kurzem ohne Sprachkenntnisse in einen fremdartigen Kulturkreis «exportiert» wurden, trug maßgeblich dazu bei. Daher etablierten sich in der türkischen Minderheit geschlossene Verkehrs- und Heiratskreise in ghettoähnlichen Wohnquartieren, z.B. in Berlin-Neukölln, in denen das türkische Fernsehen läuft und Türkisch die gängige Familien- und Umgangssprache bleibt. Das machte sich insbesondere bei den Schulkindern bemerkbar. In Berlin-Kreuzberg waren 2002 94 Prozent aller Erstklässler türkischer Herkunft, welche die deutsche Sprache nicht einmal ansatzweise beherrschten. Eine ähnliche Isolierung wiederholte sich in Duisburg, Frankfurt, München, Stuttgart, aber auch in Wohnvierteln kleinerer Städte mit einer erheblichen Minderheit türkischer Migranten.
Der verhängnisvolle Verzicht auf Qualifikation und deutsche Sprachkenntnisse unterschied die türkischen Gastarbeiter von der Lage in den klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien, Neuseeland, wo mit Hilfe einer Quotenregelung auf qualifizierte Einwanderer mit hinlänglichen Sprachkenntnissen geachtet wurde, denen dann im Lande mit Sprachkursen und anderen Unterstützungsmaßnahmen geholfen wird, ehe sie eingebürgert werden. Zwar haben in Deutschland rund 45.000 türkische Gemüseläden, Dönerstuben und Änderungsschneidereien ihre Selbstständigkeit behauptet. Doch die Arbeitslosigkeit grassiert in schwierigen Wirtschaftslagen gerade unter den türkischen Arbeitsmigranten. In Berlin ist die türkische Arbeitslosigkeit (40 %) mehr als doppelt so hoch wie unter deutschen Arbeitskräften, und unter den 15- bis 25-jährigen Jungtürken sind sogar 66 Prozent arbeitslos. Infolgedessen ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger dreimal so hoch wie der türkische Anteil an der Berliner Bevölkerung. Außerdem gehen zahlreiche Türken mit dem 50. Lebensjahr in Rente, da sie trotz der Abzüge im Vergleich mit Anatolien immer noch ein fürstliches Einkommen erhalten. Ein vernünftiges Verhältnis zwischen Einzahlung in das Sozialsystem und Auszahlung aus seinen Ressourcen ist längst verloren gegangen. Die türkischen Frührentner und Arbeitslosen verkörpern ein gewaltiges Zuschussproblem und nicht den oft behaupteten Gewinn für die deutsche Volkswirtschaft.
Inzwischen beschleunigt sich der Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaftsweise, die immer mehr hoch geschulte Experten verlangt, mithin die erdrückende Mehrheit der Türken wieder ausschließt. Es handelt sich um einen geradezu klassischen Fall der Privatisierung von Gewinnen, dem jetzt die Sozialisierung der Verluste gegenübersteht. Denn die Gemeinde- und Länderkassen müssen zusammen mit dem Bundesversicherungssystem das Arbeitslosengeld, die Sozialhilfe und die Rentenzahlungen trotz ausbleibender Gegenleistungen aufbringen.
Abhilfe kann vornehmlich nur mit intensiver Ausbildung geschaffen werden. Für Kinder mit dem sogenannten Migrationshintergrund müssen vom vierten bis sechsten Lebensjahr intensive Sprachkurse in allen Bundesländern zur Pflicht gemacht werden, damit sie dem Schulunterricht überhaupt folgen können. Fernbleiben muss zu der Sanktion führen, dass dann jedes Kindergeld
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