Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
gestrichen wird. Hilfeleistungen sind auch noch anschließend in der Schule nötig, da sie in der Elternfamilie meist nicht geboten werden. Wegen des Scheiterns der türkischen Bildungspolitik sind etwa 60 Prozent der zugewanderten Frauen Analphabetinnen, stehen mithin den Schulsorgen ihrer Kinder hilflos gegenüber. Das erfordert außerordentlich kostspielige Programme, für die auf lange Sicht Milliarden aufgebracht werden müssen, wenn man ein degradiertes türkisches Proletariat vermeiden will. Die Allgemeinheit muss für diese Hilfe aufkommen, um die fatale Fehlentscheidung der Unternehmen, um jeden Preis auf den Import billiger Arbeitskräfte zu setzen, endlich zu korrigieren. Vielleicht sollte man wieder einen «Türkenpfennig», wie er im 16. Jahrhundert erhoben wurde, einführen, um die Unternehmen, die Hunderttausende von türkischen Arbeitsmigranten ohne jede Berücksichtigung der Folgekosten geholt haben, an dem Hilfsprogramm angemessen zu beteiligen.
Die äußerst mangelhafte Integrationsbereitschaft der zugewanderten Türken, deren zweite und dritte Generation inzwischen auch an dieser Anpassungsaufgabe versagt, wird deshalb noch zu einem besonders komplizierten Problem, weil die EU sich mit dem Kopenhagener Beschluss von 2004 bereit erklärt hat, der Türkei als Aufnahmekandidat die formellen Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Dieses Projekt droht mit seiner Sprengkraft die EU in Frage zu stellen.
Die Türkei befindet sich in einem – in Deutschland oft ignorierten – Prozess voranschreitender Reislamisierung, welche die Grundlagen der Kemalschen Republik Schritt für Schritt auflöst. Die AKP, die Regierungspartei von Ministerpräsident Erdogan, ist primär eine islamistische Religionspartei – alles andere als eine bi konfessionelle türkische CDU. Während zwei Deutschlandbesuchen hat Erdogan mit beispielloser Unverschämtheit auf Veranstaltungen mit jubelnden türkischen Besuchern diese auf die Ablehnung der Integration eingeschworen, da sie «Menschenrechte» verletze. Man kann daraus entnehmen, wie die Regierung nach einer Aufnahme in die EU die gewährte Freizügigkeit interpretieren würde.
Gegen eine EU-Aufnahme der Türkei, welche die Schleusen für eine millionenfache Zuwanderung öffnen würde, sprechen unwiderlegbare Gründe, nachdem die geostrategischen Überlegungen (die Türkei als Schutzwall der NATO gegen die Sowjetunion) und ökonomische Erwägungen (wirtschaftliche Anbindung durch die längst verwirklichte privilegierte Partnerschaft) entfallen. Die Einheit Europas würde durch einen islamischen Großstaat mit 90, bald 100 Millionen Einwohnern mit einer fremden Kultur und Religion torpediert. Eine Aufnahme entkräftete auch alle Argumente gegen den Anschluss der Ukraine, Weißrusslands und Moldawiens. Der strategische Overstretch, der mit der Aufnahme der osteuropäischen Staaten verbunden war und durch den Anschluss Kroatiens, demnächst wohl auch Serbiens und Mazedoniens verschärft wird, würde durch einen Türkeibeitritt eine neue Krisensituation herbeiführen.
Mit der EU-Mitgliedschaft der Türkei gewänne Europa auch Nachbarn wie den Irak und Iran, Georgien und Syrien sowie als ungelöstes innertürkisches Problem die Kurdenfrage. Die in der EU gültige Freizügigkeit würde zur Zuwanderung von weiteren Millionen anatolischer Migranten führen, da die Bundesrepublik unvermeidlich zu ihrem Hauptzielland würde. Dadurch würde das Integrationsdilemma radikal verschärft. Dazu gehörte auch die Zuspitzung der konfessionellen Gegensätze, da von den großen Weltreligionen nur im Islam eine tiefe Feindschaft gegen den Westen kultiviert wird. Zwei Umfragen haben soeben ergeben, dass in Europa zehn Prozent der Bevölkerung für eine Rolle der Religion in der Politik votieren, während es von den Türken 68 Prozent tun. Die politische Demokratie wird in Europa von 85 Prozent als optimale Regierungsform angesehen, dagegen treten in der Türkei traditionsgemäß zwei Drittel für eine autoritäre Führung ein.
Als unüberwindbare Barriere steht auch die Leugnung des Genozids an den Armeniern einem Anschluss an Europa im Wege. Im Ersten Weltkrieg sind 1.5 Millionen Armenier ermordet worden, nachdem in einem großen Pogrom 1895 bereits 250.000 Menschen umgebracht worden waren, denen 1918 noch einmal 250.000 folgten. Hundert Jahre später bestreitet die Türkei noch immer den Armeniermord und lässt die Kritik an dieser dogmatischen Haltung durch Gefängnis und Zuchthaus
Weitere Kostenlose Bücher