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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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offenbar als ihre private Aktiengesellschaft, was sie nicht hindert, wortreich über Korruption und Willkürgesetze unter der jeweiligen Militärherrschaft zu klagen. Trotzdem würden sie einen blutigen Militärputsch allemal einer linken Verstaatlichungspolitik à la Bhutto vorziehen.
    Aus all seinen Interviews zieht der Reporter Taseer den Schluss, dass Pakistan ein Identitätsproblem hat. Das Land wird nicht nurgetrieben von seinen inneren Dämonen: Militärdiktatur und Fundamentalismus. Es herrscht auch allgemein tiefe Verwirrung darüber, was Pakistan eigentlich sein sollte: «Ein säkularer Staat für indische Muslime, ein religiöser Staat, eine Militärdiktatur oder ein Feudalfürstentum.» Mangels jedes positiven Entwurfs Pakistans, so Aatishs Erkenntnis, gibt es nur eine ideelle Kraft, die das Land noch zusammenhält: die tief verwurzelte Ablehnung Indiens, ein Mix aus ethnischem und religiösem Hass, Konkurrenzneid und Minderwertigkeitsgefühlen.
    Aatishs Resümee nach wochenlangem Umherreisen: Eine einst vielgestaltige, pluralistische Gesellschaft mit einer Vielfalt an Sprachen, Kulturen und Religionen, gespeist aus der dreigliedrigen Geschichte Indiens, nämlich aus der geistigen Troika aus Sanskrit, Urdu und Englisch, hat sich verhärtet zu Intoleranz und religiöser Tyrannei. Ein Staat, gegründet nicht von Klerikern und Fanatikern, sondern entworfen von Dichtern und gebildeten säkularen Muslimen, ist zur Diktatur verkommen – soweit Pakistan überhaupt noch Herr im eigenen Haus ist und seine gebirgigen Grenzregionen im Nordwesten nicht ohnehin bereits dem al-Qaida-Terrorismus, den Taliban und dem Drohnenkrieg der Amerikaner überlassen hat. Der Reporter sieht, wie Pakistan im ständigen Wechsel zwischen Militärputschen, Kriegsrecht und zagen und korrupten Zivilregierungen kreiselt, bei fortschreitender Islamisierung; er sieht ein gescheitertes Land im Niedergang, das inzwischen die wichtigsten Kriterien eines
Failed State
erfüllt, nämlich: chronische Flüchtlingsbewegungen, Kriminalisierung und Entlegitimierung des Staates, Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen und Aufstieg zersplitterter Eliten. Es entsteht das monströse Bild einer Abwärtsspirale, in die hinein sich Pakistan seit seiner Gründung dreht. Aatish sieht es mit Kummer, denn er hat auf seinen Erkundungsfahrten das Land lieben gelernt.
    Und mit diesen vertieften und differenzierten Einsichten über das Land seines Vaters tritt Aatish schließlich in Lahore dem Patriarchen persönlich gegenüber. Hier kommt der latente Vater-Sohn-Konflikt, der das ganze Buch grundiert, nun offen zum Ausbruch. Das Treffen endet im Zerwürfnis. Der Bruch vollzieht sich ausgerechnet im Streit über den Holocaust, an dem die Muslime selbst gar keine Schuld tragen.Der Vater bezweifelt die Opferzahlen, sucht den Genozid an den Juden durch Hinweis auf die Massaker in Sabra und Shatila zu relativieren und gibt sich als Rassist und darüber hinaus als Mann voller Ressentiments gegen den Westen zu erkennen.
    Der Sohn muss begreifen: «In meinem Vater war keiner der einst mächtigen moralischen Imperative des Islam mehr lebendig. Dennoch war er Muslim. Er war Muslim, weil er den Holocaust anzweifelte, Amerika und Israel hasste, die Hindus für schwach und feige hielt und sich an der ruhmreichen islamischen Vergangenheit berauschte.» Der Sohn sagt sich vom Vater los, indem er sich zum gemischten Erbe aus Sanskrit, Urdu und Englisch bekennt: «Ich zog es einem Erbe vor, das gewaltsam purifiziert wurde. Mischformen bereichern die Welt.»
    Damit endet das Buch, aber nicht die Geschichte von Vater und Sohn. Salmaan Taseers politische Karriere nahm im Folgenden wieder Fahrt auf. 2007 trat er der Regierung als Industrieminister bei, und 2008 wurde er zum Gouverneur der Provinz Punjab ernannt. Am 4. Januar 2011 fiel er, noch keine 66 Jahre alt, in Islamabad einem Attentat zum Opfer. Er wurde von einem seiner Leibwächter, einem fanatischen Islamisten, erschossen. Taseer hatte sich im Falle einer christlichen Tagelöhnerin gegen die Vollstreckung des Blasphemie-Gesetzes ausgesprochen, das Gotteslästerung und abschätzige Bemerkungen über den Propheten Mohammed im schlimmsten Fall mit dem Tod bestraft. Er machte kein Hehl aus seiner kritischen Sicht auf ein Gesetz, das so leicht als Instrument zur Verfolgung religiöser Minderheiten

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