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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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seinem Zwischenhändler in der Kreide, die Erträge werden von den Schuldzinsen aufgefressen. »Es ist wie ein Rennen gegen eine Uhr, die schneller tickt als du«, sagt er. Und dass Neu-Delhi indischen Großkonzernen erlaubt, in Afrika riesige Ländereien aufzukaufen, schadet Bauern wie ihm zusätzlich. Es ist ja nicht so, dass sie das Land nicht ernähren könnten; es fehlt nur an genügend Speichern, sodass sie, wenn es einmal eine Rekordernte gibt, alles verkaufen und nur noch Spottpreise erzielen können. Und deshalb gibt es kein Land der Erde, in dem so viele Kinder unterernährt sind, und so viele trotz des relativen Überflusses am Hungertod sterben. 1,7 Millionen sind es nach den jüngsten Statistiken pro Jahr. Kiran hat nie Schreiben und Lesen gelernt. Aber zur Wahl ist er immer gegangen. Als Indira Gandhi sich nach der Ausrufung des Ausnahmezustands und monatelanger De-facto-Diktatur wiederwählen lassen wollte, hat er ihr 1977 – wie so viele andere – einen Denkzettel verpasst. Die Siegesgewisse musste in die Opposition. Als dann die regierende BJP stolz ihren Wahlslogan vom »glänzenden Indien« verkündete, aber im Dorf keiner was von Fortschritt merkte, hat er auch sie abgewählt. Er ist stolz auf seine demokratischen Rechte und übt sie aus. Er weiß aber auch: Demokratie heißt nicht unbedingt, gut und kompetent regiert zu werden. Und hohes Wirtschaftswachstum bedeutet nicht automatisch, dass es ihm und Millionen Kleinbauern deshalb auch nur einen Deut besser ginge. In den Nachbardörfern haben sich einige der Untergrundbewegung der Naxaliten angeschlossen. Die maoistisch geprägten Untergrundkämpfer, die auch mit Gewalt gegen Großgrundbesitzer und Großindustrie kämpfen, sind derzeit fast in einem Dutzend der 28 Bundesstaaten aktiv. Vom Norden bis nach Andhra Pradesh zieht sich ein »roter Korridor«, in dem die Aufständischen immer wieder Polizisten angreifen und ermorden. Jeweils mehr als 700 Menschen sind in den vergangenen Jahren bei Feuergefechten und blutigen Entführungen gestorben. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass der Revolutionär Mao Zedong im demokratischen Indien des 21. Jahrhunderts vielleicht mehr Anhänger hat als im kommunistischen China.
    Zum Abschied aus Nizambad winken Kiran und die anderen aus dem Dorf, ein knappes Dutzend spindeldürrer Gestalten an einem alten Bahnübergang, die Köpfe in Plastiktüten gehüllt vor dem einsetzenden Platzregen. Halbnackte Kinder balgen sich in den ersten entstehenden Pfützen, die Frauen sind schon in der Ferne auf den Feldern, gebückt zur Aussaat oder um irgendwelche kümmerlichen Früchte abzuernten, bevor alles wegschwimmt: Sie sind die Verlierer des indischen Fortschrittsrausches.
    Und einige wenige Kilometer außerhalb von Hyderabad in die andere Richtung, hinüber nach Kothur, was so viel heißt wie »neuer Ort«, leben die anderen Verlierer: die Fabrikmigranten. Mitten im Niemandsland am Rande eines neuen, noch nicht ganz fertigen Highways wächst ein Industriegebiet, das in den Himmel stinkt. Mehrere Dutzend Fabriken blasen dort ihre Schadstoffe in die Luft oder pumpen sie in einen nahegelegenen Bach, der bereits giftig-violett angelaufen ist. Es sind Wanderarbeiter, die hier Chemikalien, Stahlrohre und primitive Lederprodukte herstellen. Oft die Söhne der Bauern, die keine Zukunft mehr in der Landwirtschaft sehen, oft auch von weither im verarmten Nordosten Angereiste. Die meisten leben in primitiven Hütten, die um die Klitschen herum entstanden sind, ohne Toiletten, zu mehreren in Zimmern ohne fließendes Wasser, nur mit einigen Stunden Elektrizität pro Tag. Sie klagen über schlechte Bezahlung, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Viele schicken praktisch ihren gesamten Verdienst nach Hause (umgerechnet etwa 25 Euro monatlich), einfaches Essen wird zwischen den Schichten serviert. Bei Arbeitsunfällen allerdings gibt es keine Zahlungen, »die sind immer selbstverschuldet«, sagt einer bitter. Und manche bezahlen auch noch an die Schlepper, die sie hierhergelotst haben, denen sie ihren miserablen Job verdanken.
    Es ist nicht so, als gäbe es in diesem Staat keine fortschrittlichen Sozialprogramme. Im Jahr 2005 schon wurde das vielleicht ambitionierteste aller dieser Programme weltweit in Neu-Delhi konzipiert. Es heißt, umständlich wie so oft in Indien, »Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act«, abgekürzt MGNREGA . Jedem ländlichen Haushalt wird nach dieser Verordnung eine staatlich bezahlte

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