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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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»Oh-Kalkutta«, aus der angeblich niederschmetternden und hoffnungslosen Katastrophen-Metropole, ein »E-Kalkutta«, jedenfalls ein bisschen. Und hier lassen sich auch die tektonischen Veränderungen der Weltpolitik am besten beobachten. Die Hoffnung verstehen, von der Helmut Schmidt spricht: »Indien kann eine Weltmacht werden«, und das Credo des New Scientist mit seiner Aussage von der »kommenden Superpower des Wissens«.
    Ausgerechnet Kalkutta. Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss nannte diese Stadt »den Schauplatz all dessen, was wir auf der Welt hassen«. Für den amerikanischen Filmemacher Woody Allen war sie Heimat von hundert Krankheiten, die noch nicht einmal einen Namen tragen. Literaturnobelpreisträger V. S. Naipaul disqualifizierte sie als den »deprimierendsten aller Orte«. Seinem deutschen Schriftstellerkollegen Günter Grass blieb es überlassen, nach monatelangem Aufenthalt vor Ort die schlimmste aller Kränkungen zu finden: »Ein Haufen Scheiße, wie Gott ihn fallen ließ.« Für die zwanzigjährige Arundhati ist dieser fiebrige, lepröse, angeblich zur Vorsintfluthaftigkeit verdammte Moloch Heimat – und ihre Aufstiegschance.
    Sie arbeitet im Industriepark Infinity in einem großen, gerade erst fertiggestellten Hochhaus, dort, wohin große westliche Firmen ihre Dienstleistungen ausgelagert haben. Arundhati geht in der Freizeit gern shoppen, »westliche Markenartikel und so«, sagt sie. Aber meist arbeitet die College-Absolventin und Hobby-Tennisspielerin. Sie hat sich ihren ersten Kleinwagen gekauft und so den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft. Im Auftrag einer großen Bank mahnt sie telefonisch gerade deren amerikanische Kunden, die offensichtlich aus der Mittelschicht absteigen, doch bloß nicht wieder die Ratenzahlungen fürs Haus zu vernachlässigen. »Sonst müssen wir pfänden«, sagt Arundhati streng, immer das Kärtchen mit dem vorgeschriebenen Text vor sich. »Ich mache das wirklich nicht gern«, seufzt sie. »Und ich habe gerade eine Sonderausbildung begonnen, damit ich Krankenhausabrechnungen aus Chicago überprüfen und Steuererklärungen aus Manchester machen kann.« Noch zwei Stunden, dann übernimmt die »Australien-Schicht«, dann kommt Kalifornien, dank der Zeitverschiebung ist das Call-Center 24 Stunden im Einsatz. Von hier aus wird die Welt bedient, mit Serviceleistungen aller Art. Auf nagelneuen Sesseln, deren Plastiküberzüge noch nicht einmal abgenommen sind, sitzen junge Leute mit Jeans und hochgekrempelten Hemden. Jeder in seinem mit Wandschirmen abgetrennten zwei Quadratmeter großen Block, Telefonanlage zugeschaltet, Blick auf den Bildschirm. Die Flut der Anrufe stoppt nie. Der Computer schaltet nach nur wenigen Sekunden Erholungspause digital eine neue Nummer zu.
    »Good Morning, Madam, wir möchten Ihnen ein besonderes Flatrate-Angebot der Telekom Melbourne nahebringen.« – »Sir, natürlich können Sie Ihre Kreditkarte in San Francisco sofort ersetzt bekommen. Sie gehen zur Union Square und dann …« – »Hello, Kansas. Was meinen Sie damit, Ihr PC entwickelt ein bösartiges Eigenleben? Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, ihn wieder vernünftig zu machen.« – »Gnädige Frau, auch für Sie in Glasgow gelten unsere allgemeinen Kreditrichtlinien. Leider müssen wir Ihnen sagen …« – »Nein, Sir, ich kann nicht noch mal schnell in Ihrer Wohnung im Londoner Westend vorbeikommen. Aber was das Ausfüllen Ihrer Versicherungsunterlagen betrifft …«
    Wohl schon mehr als eine Million Inderinnen und Inder arbeiten in der Outsourcing-Branche. Sie geben Kundendiensttipps, treiben Rechnungen ein, spüren verlorenes Airline-Gepäck auf. Sie machen all das, was eine Dienstleistungswelt am Telefon erledigen kann. Und sie machen es billiger, viel billiger, als es Amerikaner oder Engländer je könnten. Und mit Sonderkenntnissen, wie sie jetzt auch die junge Dame aus Kalkutta anstrebt, könnten bald ganze Berufsgruppen im Westen in Bedrängnis geraten, etwa Steuerberater. Arundhati Kumar weiß, dass die Call-Center-Branche in Indien trotz all ihrer Erfolge an Grenzen stößt. Sie betrachtet den anstrengenden Telefon-Job nur als Berufseinstieg und als eine Übergangslösung. Die Ehrgeizige, die zu Hause ausgezogen ist und sich jetzt mit drei Freundinnen eine kleine Wohnung teilt, träumt von einer eigenen Firma oder einem Angebot von einem Weltklassekonzern. »Ich will die Leiter hinaufklettern, so wie alle meine Bekannten, so wie das ganze Land«,

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