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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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sagt sie.

6 BRASILIEN
Die Samba-Rebellen
    Brasília ist etwas für Liebhaber. Der Schutzpatron der Stadt heißt Don Bosco, ein Heiliger vor dem Herrn, der für die Armen kämpfte und in einer Prophezeiung 1883 von einem Ort sprach, der ihm erschienen sei und »in dem Milch und Honig fließen«; dort liege die »Quelle einer neuen Zivilisation«, und auch die »Koordinaten zwischen den Breitengraden 15 und 20« seien ihm in der göttlichen Mitteilung offenbart worden. Darauf nahmen die Städtebauer Bezug, als 1891 die Regierung beschloss, zur Förderung des Binnenlandes eine neue Hauptstadt im Landesinneren zu errichten. 1893 grenzte man das Areal ein, 1922 fand die Grundsteinlegung statt. 1956 wurde als erstes Gebäude ein provisorischer Regierungspalast fertiggestellt, 1960 wurde die Kapitale eingeweiht. Oscar Niemeyer entwarf die öffentlichen Gebäude, die Planung oblag dem brasilianischen Architekten Lúcio Costa. Als Grundriss wählte er ursprünglich die Form eines Kreuzes. Wegen der Ähnlichkeit der Stadtanlage mit der Form eines Flugzeugs und der Bezeichnung plano piloto denken die meisten allerdings bis heute, es handle sich bei dem Entwurf um ein Riesenflugzeug. Und tatsächlich kann man sich beim Blick vom Fernsehturm dieses Eindrucks nicht erwehren: der Platz der Drei Gewalten mit dem Nationalkongress ist das Cockpit, den Körper bildet die Eixo Monumental, die Straße der Ministerien, und die Flügel sind die Wohngebiete.
    Seit 1987 ist diese Brasília Weltkulturerbe. Und doch wirkt die Hauptstadt für dieses brodelnde, lebenslustige Land seltsam steril, artifiziell, betonburgig, reißbrettgeprägt. Noch immer verlassen sehr viele Beamte Brasília am Wochenende, weil sie einfach nicht warm werden mit diesem Ort. »Das Experiment war nicht erfolgreich«, meinte selbstkritisch sogar der Gründervater Niemeyer, der immer seine Wohnung in Ipanema behielt und gar nicht daran dachte, in seinen Retortenort umzuziehen. Die »Stadt des dritten Jahrtausends« (Eigenwerbung) wirkt heute eher wie das missglückte Denkmal einer Utopie, die sich nicht primär an den Bedürfnissen der Menschen orientiert hat. Eine Stadt, die soziales Gefälle eher betont als einreißt: Unter Brücken warten Hausangestellte auf den selten kommenden Bus, der sie in Plattenbauvororte bringen soll. Oben an der Kreuzung rauscht der Verkehr der Dienstlimousinen, die die Reichen in propere Häuschen mit Vorgärten bringen. Keine Stadt in diesem Land hat ein höheres Prokopfeinkommen. Glitzernde Einkaufszentren, Luxusrestaurants, Golfplätze – alles vorhanden. Das Betonmonster hat sich, zumindest statistisch, zur Boomtown gemausert. Wenn man auf Atmosphäre keinen Wert legt, kann man für Lebensqualität halten, was hier geboten wird.
    Ja, Brasília ist wirklich etwas für Liebhaber. Für Liebhaber der abstrakten Architektur. Für Bürokraten, die nichts mehr als Übersichtlichkeit schätzen. Für Fans von strikten Fünfjahresplänen. Und damit würde Brasília viel besser als Hauptstadt einer autoritären, einparteiengesteuerten, wohlorganisierten Großmacht taugen – sagen wir, als Kapitale der Volksrepublik China. Es ist ein kühles Raumschiff, ein funktionales Flugzeug, das sich in die dampfenden, chaotischen Tropen verirrt hat. Motorschaden in der Steppe, 1150 Meter über dem Meer und nur wenige Kilometer südlich des Äquators, im Hochlandherz Brasiliens, wohin sich früher nur Fallensteller, Goldsucher und Nomaden verlaufen haben. Kein Wunder, dass die Bürokraten, die hierher umziehen mussten, Brasília für eine Strafkolonie im Niemandsland hielten und sich den bitteren Umzug mit üppigen Zuschlägen versüßen ließen.
    Die Hausherrin des Präsidentenpalasts hat sich nie dazu geäußert, wie sie dieses Brasília findet. Womöglich vermisst sie Belo Horizonte, wo sie aufgewachsen ist, gar nicht so sehr: Auch ihre Geburtsstadt ist weitgehend auf dem Reißbrett entstanden, schachbrettförmig angelegt, ordentlich; wenn irgendeine Stadt im Land Brasília gleicht, dann Belo Horizonte. Aber sie neigt ohnehin nicht zur Sentimentalität, gilt als kühle, ganz und gar kopfgesteuerte Politikerin. Sie schirmt ihr Privatleben von der Öffentlichkeit ab, lebt mit ihrer Mutter, einer Tante und einem schwarzen Labrador in der offiziellen Residenz, dem zweiten Stock des großzügigen Alvorado-Palastes.
    Dieser »Palast der Morgendämmerung« liegt auf einer Halbinsel im Paranoá-See. Im ersten Stock sind die Empfangsräume für Staatsgäste mit

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