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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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bestimmen. Wenn man seinem Anwalt glaubt, schaltet er aber meist wieder um, auf der Suche nach etwas Härterem. Nach Kriegsfilmen. Der Oberst a. D., Rente umgerechnet 2500 Euro, genießt seinen Lebensabend. Er holt sich Bestätigung bei den alten Kameraden, jenen unbelehrbaren Ex-Offizieren, die bei ihrem jährlichen Treffen in aller Offenheit die Zeiten der Militärherrschaft hochleben lassen. Es werden immer weniger, aber sie sind noch da, und sie haben hinter den Kulissen des Verteidigungsministeriums noch so viel Einfluss, dass man nicht sicher sein kann, ob es wirklich noch zu einer effektiven Auseinandersetzung mit den früheren Verbrechen kommt. Curió ist da schon weiter. Er verzeiht sogar seinen Opfern. Er habe, lässt er mitteilen, inzwischen akzeptiert, dass die jungen Aufständischen am Araguaia »wohl Idealisten waren, von einem ähnlichen Geist wie wir durchdrungen. Aber ihr Weg führte in die eine Richtung, meiner in die andere«.
    Die Aufarbeitung der Vergangenheit, das Austrocknen des Korruptionssumpfs sind wichtige Themen für Dilma Rousseff. Mit beiden dürfte sie die Mehrheit der Brasilianer auf ihrer Seite finden. Aber es sind keine Themen, die über ihre Amtszeit, über ihre Wiederwahl, über ihr Vermächtnis entscheiden. Da zählt nur eins: Wie es ihr gelingt, die wirtschaftlichen Probleme des Landes in den Griff zu bekommen, die große Mehrheit der Brasilianer in eine bessere Zukunft zu führen, Bildungschancen und Altersvorsorge entscheidend zu verbessern. Nur eins könnte einen Sieg der Präsidentin bei der nationalen Wahl Ende 2014 verhindern, pflegten meine brasilianischen Freunde noch bis vor Kurzem zu sagen – wenn die Nationalmannschaft bei der Fußball- WM in der Vorrunde ausscheide. Eine solche nationale Tragödie würde zu tiefen Depressionen führen und irgendwie auch an der Regierungschefin hängen bleiben. Aber inzwischen ist noch nicht einmal mehr ganz sicher, ob ein sportlicher Erfolg Rousseff einen neuen Triumph an den Urnen garantiert.
    In Brasilien, das den meisten internationalen Beobachtern noch im Frühjahr 2013 als Erfolgsgeschichte mit allenfalls kleinen Dellen gegolten hatte, braute sich ein Proteststurm zusammen, »innerhalb weniger Tage, quasi aus dem Nichts«, wie selbst Peter Burghardt, der langjährige Südamerika-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung , staunend feststellte. Zuerst gingen die Menschen gegen die Erhöhung von U-Bahn- und Busgebühren auf die Straße, vor allem in São Paulo, wo die öffentlichen Verkehrsmittel noch überfüllter, schmutziger und unzuverlässiger sind als anderswo, und wo die Staus regelmäßig weltrekordverdächtige Längen erreichen, zuletzt zählte man einmal eine Blechlawine von 290 Kilometern am Stück. Aber schnell kamen bei den Demonstranten grundsätzlichere Klagen hinzu: gegen die Vetternwirtschaft der Politiker, von denen trotz einschlägiger Gerichtsurteile kein einziger hinter Gittern sitzt; gegen die sagenhafte Geldverschwendung für die Fußball- WM , die den Steuerzahler elf Milliarden Euro kosten soll, mehr als dreimal so viel wie das Turnier in Deutschland, und bei der sich die Cartolas , die erkennbar korrupten brasilianischen Sportfunktionäre, nach allgemeiner Ansicht über abgezweigte Prozente die Taschen vollstopfen; gegen die hohen Lebenshaltungskosten mit einer Inflation von 6,5 Prozent, die kaum mehr erschwinglichen Mieten, die teuren Hospitäler und kläglich ausgestatteten Kindergärten. »Fußball ist wichtig, aber noch wichtiger sind Schulen und Krankenhäuser«, stand auf den Plakaten der Protestierenden.
    Es war wie ein Paradigmenwechsel – die Brasilianer mochten sich nicht mehr mit Brot und Spielen abspeisen lassen. Es sollten sich nicht mehr alle Verfehlungen »im Samba aufösen«, wie es in dem so lange gültigen, zynisch-resignativen Sprichwort heißt. Zehntausende, Hunderttausende und schließlich mehr als zwei Millionen gingen Mitte Juni landesweit auf die Straße, um eine grundsätzliche Mentalitätsänderung ihrer Führung zu verlangen. O gigante acordou , »der Riese ist erwacht«, wurde zum Schlagwort der Bewegung. Die Protestierenden waren ein bunter Haufen. Manche kamen aus der politischen Linken und hatten sich die Anonymous-Masken der Globalisierungsgegner übergezogen. Andere outeten sich als Kämpfer für die Umwelt und forderten mehr Rechte für die Indios und ein Ende des Raubbaus an der Natur. Auffallend viele junge Leute waren dabei, auffallend viele gut Gekleidete, auffallend

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