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Die Neuen - Herz des Gladiators - Nachbars Garten

Die Neuen - Herz des Gladiators - Nachbars Garten

Titel: Die Neuen - Herz des Gladiators - Nachbars Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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gehören schien, in die er sich eingenistet hatte. Ab und zu erschienen ihre Züge, ihre Körperformen als halbtransparente, flatternde Fetzen über dem grellen, unwirklichen Körper des Mannes. Kein Zweifel – sie umhüllte ihn wie ein Schutzanzug. Sie trug ihn in sich, ermöglichte ihm eine Flucht, zu der er alleine niemals fähig gewesen wäre.
    Und nun tat die Alte etwas Unglaubliches.
    „Es hilft nichts“, sagte sie mit kalter Stimme. „Wir müssen sie umbringen. Wenn das Weib tot ist, stirbt er auch.“
    Mit einer raschen Bewegung zog sie aus dem engen weißen Haarknoten auf ihrem Hinterkopf etwas Langes, Spitzes. Eine Haarnadel! Sie umgriff Ute Schikorskis Oberkörper von hinten, zog sie ein Stück zurück und legte ihr die Nadel an den Hals. Kevin setzte zu einer Bewegung an, doch Traude Gunkel drückte die Nadel neben Utes Kehlkopf in die Haut und zischte: „Zurück!“
    „Gott, sie kann doch nichts dafür!“ Das war Werner Hottens Stimme. Wie gebannt starrte auch er auf die Szene und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass vor seinen Augen gleich ein Mensch sterben würde. Ermordet werden würde. Doch er konnte nichts tun. Niemand konnte etwas tun. Wenn man sich ihr näherte, würde sie zustechen.
    „Sie hat den Spuk befreit!“, presste Traude Gunkel zwischen den Zähnen hervor. „Und dafür wird sie büßen. Dieser Bastard von einem Weib stirbt. Und zwar … jetzt!“
    Ein Ruck ging durch sie, ihre Züge verkrampften sich, ihre Augen weiteten sich, ihre knochige Hand schloss sich hart um die Nadel und …
    „Neiiin!“, schrie Salvatore.
    Diejenigen, die ihr Heil noch nicht in der Flucht gesucht hatten, wurden Zeugen eines unglaublichen Schauspiels.
    Die stumpfe Spitze der Nadel drückte eine tiefe Delle in den Hals der jungen Frau, aber sie riss keine Wunde. Traude Gunkel tötete Madame Spectre nicht. Ihre Aktion bewirkte dennoch etwas.
    Das, was von dem Baron zu sehen war, veränderte sich, glühte auf wie unter einem plötzlichen Energiestoß. Die Farben wurden zu grellen Lichtblitzen, wirbelten und zerflossen ineinander. Für einige Sekunden war er nichts als ein öliges, buntes Flimmern, das die Konturen eines Menschen trug. Wo die Farben sich berührten, kam es zu kleinen, lautlosen Explosionen. Lorenz von Adlerbrunn verblasste nicht einfach, er verzehrte sich – die farbigen Flächen, aus denen sein Körper sich zusammenzusetzen begonnen hatte, löschten sich gegenseitig aus.
    Der Prozess währte Minuten, bis nichts mehr übrig war als die schemenhafte Gestalt der Frau. Diese und ein seltsamer Geruch nach Moder, der direkt aus dem seit vielen Jahren nicht mehr geöffneten Zimmer herüber zu sickern schien …
    Traude Gunkel nahm die Nadel vom Hals der stöhnenden Madame Spectre und steckte sie zurück in ihren Haarknoten. Dort würde sie verborgen bleiben, bis sie sie wieder einmal benötigte. Ihre Hände zitterten nicht.
    „Komm schon, mein Kind“, sagte sie und fixierte dabei die Geistererscheinung, die zur Hälfte in der Tür stand. „Keine Angst – ich tue dir nichts. Du musst zurück in deinen Körper. Du musst!“
    Der Astralleib der Madame Spectre schien sich zögernd umzusehen, doch dann trat er in die Frau hinein und wurde schließlich vollständig von ihr aufgesogen. Es sah so aus, als wollte Ute Schikorski die Augen aufschlagen, allerdings schien ihr die Kraft dazu zu fehlen, und sie schlief in den Armen der Weißhaarigen ein, was ein merkwürdiger Anblick war. Traude Gunkel bettete das Mädchen mit erstaunlicher Sanftheit auf den Boden.
    „Es wird besser sein, sie von hier wegzubringen“, meinte sie dann. „Sie darf es kein zweites Mal versuchen. Das war sehr knapp.“
    „Wie haben Sie das gemacht?“ Salvatore half ihr vom Boden auf.
    „Routine. Reine Routine“, antwortete sie nur.
    Margarete stellte sich vor sie. Zuerst hatte sie den Blick gesenkt. Langsam hob sie ihn. „Ich danke Ihnen, dass Sie unser aller Leben gerettet haben“, sagte sie. Es kostete sie eine Menge Überwindung, aber sie sprach es mit großem Ernst und großem Stolz aus. „Für einen Moment dachte ich, Sie würden Madame Spectre wirklich töten.“
    „Madame Spectre?“, wiederholte die Gunkel. „So nennt sich das Kindchen? Wenn ich diesen Namen vorher gehört hätte, hätte ich es vielleicht getan. Manchmal ist es besser, tot zu sein, als keinen Geschmack zu haben und zu leben.“
    „Verraten Sie uns, wie Sie das gemacht haben!“ Salvatore blieb hartnäckig. „Ich verstehe nicht,

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