Die Neuen - Herz des Gladiators - Nachbars Garten
nicht einfach nur ein Aufschrei der Überraschung, wie man ihn ausstieß, wenn man erschreckt wurde oder versehentlich etwas fallen ließ. Der Schrei hielt an, und es war etwas an ihm, das dafür sorgte, dass die beiden Kontrahentinnen sofort zweitrangig füreinander wurden.
Der Schrei hatte eher leise begonnen und wurde lauter und lauter, je länger er andauerte! Je weniger Atem die Person zur Verfügung hatte, die ihn ausstieß, desto lauter wurde er, verwandelte sich in ein gequältes, aber unbeschreiblich kraftvolles Röcheln, voll von Schmerz und Grauen.
Der Korridor führte kerzengerade hinüber zum linken Flügel des Gebäudes. An die fünfzig Meter waren es von der einen Seite des Schlosses zur anderen, und beinahe die gesamte Entfernung trennten die vier Menschen von der Frau, die geschrien hatte und immer noch schrie. Auch ihr Luftholen war ein qualvolles Wimmern.
Margaretes erster Gedanke war, dass es sich um eine der Studentinnen handeln musste. Die Frau kauerte auf dem Boden vor einer der letzten Türen auf der linken Seite. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, denn sie presste es gegen eine Tür, ebenso ihre Arme, rutschte daran herunter und rappelte sich wieder auf. Es war, als versuchte sie mit aller Kraft durch die geschlossene Tür zu dringen. Die Dozentin rannte ein paar Schritte, dann erkannte sie erst, um welche Tür es sich handelte.
Es war die letzte im Flur. Jene, die mit fünf Vorhängeschlössern gesichert war und niemals geöffnet wurde. Die Tür, hinter der der Geist des Lorenz von Adlerbrunn eingesperrt war!
Was geschah mit der Frau? Wurde sie durch die Tür hindurch von dem Baron attackiert? Unmöglich – er war gefangen, die Wände mit den mächtigsten Bannsprüchen bemalt, die Menschen jemals gekannt hatten. Sir Darren selbst hatte sie angebracht. Sofern dem Spuk niemand die Tür von außen öffnete, konnte er nicht heraus.
Das jedenfalls war die gedankliche Basis, auf der sie sich bewegten. Das Vertrauen, auf dem diese Schule fußte. Einen Beweis für die Richtigkeit der Theorie gab es nicht.
Margarete hatte schon die Fernsehnische erreicht und damit die halbe Entfernung zurückgelegt, als sie die Kleidung der Kauernden wiedererkannte. Sie gehörte keiner der Studentinnen. Die Frau, die vor der Tür auf dem Boden lag und offenbar schreckliche Qualen litt, während sie andererseits in das Zimmer einzudringen versuchte, trug ein zweiteiliges Kleid aus weißem Leder. Ihre langen, braungebrannten Beine waren bis hinauf zu den Ansätzen der Schenkel entblößt, und die Jacke war von ihren Schultern gerutscht. Das war Madame Spectre – Ute Schikorski, die Frau, die nicht davor zurückschreckte, unschuldigen Ouija-Boards ein indianisches Design zu verpassen.
Als Margarete an der zweiten Treppe vorbeikam, sah sie von unten einen Schatten heranflitzen. Er war so schnell, dass das Auge ihn kaum erfassen konnte, und die wirbelnden dunklen Mantelschöße erinnerten aufs Neue an die Schwingen einer fliegenden Kreatur aus der Kreidezeit. Ein Hieb dieser ledernen Schwingen stieß sie zur Seite, und sie wurde gegen die Wand zwischen den Türen geschleudert.
Kevin C. Anders kam zwischen ihr und der Kauernden zum Stehen.
Und schien sich zu fragen, was er als nächstes tun sollte.
Es war nichts zu sehen, wovor er Madame Spectre beschützen konnte. Sie selbst war es, die sich gegen die verschlossene Tür drückte, so stark, dass sie sich dabei allem Anschein nach selbst Schmerzen zufügte. Was ging in ihrem Kopf vor? Hatte sie den Verstand verloren? Oder trog der Schein, und sie wurde in Wirklichkeit von einer Macht im Inneren gewaltsam angezogen?
Von Lorenz von Adlerbrunn?
„Lorenz!“, rief in diesem Moment eine von Pein und Wahnsinn verzerrte Stimme. Sie kam aus dem Mund von Ute Schikorski, einem Mund, der über das Holz der Tür gezogen wurde, so brutal, dass die Lippen aufrissen und Blut aus ihnen hervorspritzte. Man konnte sogar das Schaben der Zähne auf dem Holz hören. Und das der Fingernägel. „Looooorenz!“ Sie wiederholte den Namen wieder und wieder, bis er nur noch ein unartikuliertes Heulen war.
Margarete zwang sich dazu, die verstörenden Bilder auszublenden und nachzudenken.
Dass Lorenz von Adlerbrunn auf Falkengrund spukte, war nicht wirklich ein Geheimnis. In einschlägigen Büchern waren Einzelheiten über den schaurigen Baron festgehalten, und sogar bis in so manche wilde Klatschzeitschrift hatte der Spuk es geschafft. In einigen der umliegenden Dörfer redeten die
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