Die Neuen - Herz des Gladiators - Nachbars Garten
Schulter.
„Aua!“, beschwerte sich Angelika. Ihre Entrüstung währte nur eine Sekunde. Dann ging in ihren Augen ein warmes Licht an, sie drückte sich an Jaqueline vorbei und schlüpfte in Werners Zimmer. „Ich darf doch mit, oder?“
„Nach Offenburg ins Krankenhaus? Also … wenn du möchtest …“
„Nicht ins Krankenhaus! Spaziergang! Die Gewächshäuser! Mit Jackie! Ich mag Blumen!“ Normalerweise war Angelika durchaus in der Lage, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Schrieb sie Texte, verfügte sie sogar über einen höchst ausgefeilten Stil. Doch wenn sie sich allzu sehr freute, rutschte ihr Sprechstil auf das Niveau einer aufgeweckten Zweijährigen.
„Nur über die tote Jackie“, versetzte Jaqueline. Es reichte ihr vollkommen, Angelika Nacht für Nacht als Zimmergenossin erdulden zu müssen. Tagsüber ging sie ihr konsequent aus dem Weg.
„Warum denn nicht? Komm schon, sei keine Spielverderberin! Wir sind Schulfreundinnen – wir können Würstchen mitnehmen und auf der Grillwiese zusammen grillen. Das wird ein richtiger Mädchennachmittag. Wie klingt das?“
„Ernüchternd.“ Wenn sie wenigstens Frauennachmittag gesagt hätte, hätte Jaqueline in Erwägung ziehen können, sie nach einer Schmollphase von drei Monaten wieder zu grüßen. Doch so: Mädchennachmittag. Was würde alles auf dem Programm stehen? Ponyreiten?
„Ich kann gut Zöpfe flechten!“, rief Angelika. Dann schien ihr erst einzufallen, wie kurz Jaquelines Haare waren. Sie lächelte unsicher. „Oops, entschuldige. Gut, dann hast du eben heute deinen miesepetrigen Tag. Ist mir auch egal. Du kannst mich jedenfalls nicht davon abhalten, auch da hoch zu gehen. Ich weiß nämlich, wo das ist. Wer als Erste drin ist, hat gewonnen, okay?“
„Werner“, sagte Jaqueline lauernd. „Ich bin heute Nachmittag verhindert.“
Der Rektor setzte eine flehende Miene auf. „Bitte, Jack… Jaqueline!“
Jaqueline blieb ihm die Antwort schuldig und ging mit kraftvollen Schritten den Korridor hinab.
2
März 1940
Wie ein Schrei klang es durch das Haus aus Holz und Glas. Wilhelm Stein hatte die große Tür schon mehrfach geölt, doch das durch Mark und Bein dringende Geräusch ließ sich nicht vertreiben. Es war wie ein hartnäckiges Unkraut, das sein Revier nicht aufgab. Wilhelm hatte gelernt, es zu ignorieren, seine Eliminierung aufzuschieben.
Auf einen Tag wie heute vielleicht.
Seit einer Woche hielt sich mildes, sonniges Frühlingswetter, das Gewächshaus heizte sich Tag für Tag merklich auf, und wer ein Auge dafür entwickelt hatte, konnte sehen, wie sich die bunten Schützlinge freuten. Früher hatte Wilhelm für solche Momente gelebt. Selbst heute, wo es schmerzte, Spaß an den Pflanzen zu empfinden, tat Wilhelm, was er immer tat. Er ging den Weg Platte für Platte in meditativer Stille ab und nahm den dicken Rosenduft in sich auf. Dabei schwenkte er sein rechtes Bein mit dem versteiften Knie zentimetergenau an der Steinumrandung des Beetes vorbei, ein besonderer Tanz, die Choreografie seines Lebens. Obwohl man mit dieser Einschränkung nicht rennen konnte, bewegte er sich gewöhnlich schneller, und er hatte im Laufe der Jahre erst lernen müssen, innerhalb der Gewächshäuser so langsam zu gehen, so übertrieben langsam, dass er fast schon in den Zeitablauf der Blumen passte, ihr schwerfälliges Denken nachempfinden konnte. Sie bewegten sich so gemächlich und wuchsen so schnell und kraftvoll.
Wenn Menschen doch wachsen könnten wie die Pflanzen , dachte er. Wenn man ihnen ein Körperteil abhacken könnte, und es würde nachwachsen! Wie einfach wäre es, dafür auf die Schnelligkeit von Menschen und Tier zu verzichten …
Manchmal blieb er stehen und berührte sie. Liebkoste sie. Seine Finger waren übersät mit Narben, denn meistens streichelte er sie zu intensiv. Sie reagierten darauf, vielleicht nicht auf sein Blut, das bisweilen an ihren Stängeln klebenblieb (das wollte er lieber nicht annehmen), aber doch auf den Körperkontakt. Diejenigen, die er jeden Tag anfasste, gediehen besser, bildeten kräftigere Stiele, größere Blätter, und sie dufteten stärker. Als hätte er ihr Selbstvertrauen gestärkt, ihre Lust geweckt. Als wollten sie ihn mit ihrem Geruch betören und dazu verführen, sie noch inniger zu berühren.
Falls er erwartet hatte, heute eine herbe Note herausriechen zu können, hatte er sich getäuscht. Die Rosen war die Süße selbst, ein Wald aus kandierten Gewürzen. Sie waren frisches, heißes
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