Die Neuen - Herz des Gladiators - Nachbars Garten
Heilkräutern buchstäblich leergesaugt worden wie von einem Vampir.“
„Ich habe noch nie von einem solchen Fall gehört“, meinte Jaqueline. Sie tat, als ginge das Thema völlig an ihr vorbei, dabei streckten Angelikas Horrorvisionen bereits ihre Wurzeln nach ihr aus. Der Gedanke ließ sich ohne weiteres in noch morbidere Dimensionen fortspinnen: Sie sah jemanden vor sich, zuerst war es eine anonyme Frau, dann sie selbst. Sie lag regungslos zwischen Pflanzen, gefesselt vielleicht oder gelähmt, aber an Infusionen angeschlossen, sodass immer genug Flüssigkeit für ihren Körper da war, um zu funktionieren. Jemand hatte den größten Teil von ihr unter einer hauchdünnen Schicht Erde begraben und in diese Erde einige Pflanzen gesetzt. Sie tat den lieben langen Tag nichts anderes als zu versuchen, die Erde und die Pflanzen abzuschütteln, aber es gelang ihr nicht. Waren ihre Nerven noch intakt? Dann würde sie irgendwann ein Stechen wie von Nadeln spüren, sobald die Wurzeln den Druck auf ihre Haut verstärkten. Bis sie sie nach einigen Tagen durchstießen und sich den Weg durch ihre Organe bohrten. Oder war ihr Körper vielleicht taub geworden, empfindungslos wegen der Lähmung oder der engen Fesseln? Dann würde sie die Pflanzen nur gedeihen sehen, Blüten sich öffnen sehen, ohne etwas zu spüren, doch sie würde wissen, dass sie in ihrem Fleisch wuchsen.
Hatte sie nicht schon über die Bambusfolter gelesen, die früher in Ostasien gebräuchlich gewesen sein sollte? Dabei fixierte man einen Menschen über mehreren Bambussprossen, die daraufhin seinen Körper durchbohrten. Diese Sprossen wuchsen unter günstigen Bedingungen einen Meter am Tag.
Pflanzen, durchzuckte es sie, wären die gefährlichsten und gnadenlosesten Geschöpfe auf dieser Erde, und die Menschheit würde in ständiger Furcht vor ihnen leben, wenn sie nur ein wenig schneller wären. Es brauchte keine riesengroßen fleischfressenden Pflanzen wie in drittklassigen Horrorfilmen. Die ganz gewöhnlichen Nachbarn der Menschen reichten völlig aus: Bohnen mit ihren kräftigen Ranken, Stachelbeerbüsche, Kakteen oder Bäume – gib ihnen nur Schnelligkeit, und es ist genug, um sie zu reißenden Bestien zu machen, die bei ihrer Jagd nach Wasser und Nährstoffen auch vor Menschen und Tieren nicht Halt machen. Ein Spaziergang durch den Wald wird zum lebensgefährlichen Abenteuertrip, für den man sich ausreichend mit Gartenscheren und Äxten bewaffnen muss. Die Häuser, in denen die Menschen heute leben, bieten keinen ausreichenden Schutz mehr. In den sieben, acht Stunden, die ein Mensch schläft, klettern Pflanzenarme Wände empor, zerbrechen Fensterscheiben oder suchen sich Wege zwischen Mauersteinen hindurch.
Jaqueline schüttelte sich. Ihr war plötzlich eiskalt. Für einige Sekunden war sie komplett von ihrem Tagtraum eingehüllt worden und hatte nicht mitbekommen, dass Angelika längst mit der Kanne über eines der Beete ging. Sie bewässerte sie alle, die lebenden und die toten Pflanzen. Brachte es offenbar nicht übers Herz, einer von ihnen das lebenspendende Nass vorzuenthalten. Während sie goss, redete sie, wie man mit einem Kind oder Haustier spricht. „So“, sang sie. „So, das ist gut. So. So.“ Im Nu war die erste Kanne leer.
„Wenn du fertig bist, gehen wir“, hörte Jaqueline sich sagen. Warum hatte sie es plötzlich so eilig? Und warum sagte sie wir und nicht einfach ich ? Vielleicht, weil sie nicht mehr unglücklich darüber war, zu zweit hier zu sein? Oder weil sie ihre Kommilitonin auf keinen Fall alleine hier zurücklassen wollte?
Mit den langsamen Bestien.
Angelika sah sie mit leichter Verwunderung an. „Okay, aber vorher müssen wir das hintere Haus mit Wasser versorgen. Ich wette, da gibt es auch noch ein paar Überlebenskünstler.“
Man sagt manchmal Dinge, um sie gleich wieder zu vergessen.
Wie hätte Angelika ahnen sollen, dass die Bezeichnung Überlebenskünstler, die sie ohne tieferes Nachdenken ausgesprochen hatte, wie geschaffen war, um einige der Pflanzen in diesem Gewächshaus zu charakterisieren? Allerdings keine von denen, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatten …
4
März 1940
Schon vor Kriegsausbruch hatten die Musterungen der Wehrmacht nur teilweise in militärischen Räumlichkeiten stattgefunden. Häufig zog man dazu Schulen oder andere öffentliche Gebäude heran. In Wilhelms Fall wurde eine Gaststätte genutzt – der Schwarze Bär. Zum Zwecke der Musterung hatte man den größten Saal
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