Die neuen Weltwunder - In 20 Bauten durch die Weltgeschichte
ging es nicht orientalisch zu. Diesmal wollte Ludwig die altdeutsche Märchenwelt in Form einer Ritterburg wiedererstehen lassen, beseelt nicht zuletzt durch das Musiktheater Richard Wagners, des von Ludwig hochverehrten Komponisten. Insbesondere für Wagner sollte Neuschwanstein eine Bühne werden, und entsprechend wurden bildende Künstler des Theaters mit Entwürfen beauftragt. In einem Brief an Wagner schrieb Ludwig schwärmerisch vom »würdigen Tempel für den göttlichen Freund, durch den einzig Heil und wahrer Segen der Welt erblühte«. Allerdings sollte der Komponist die weiße Burg nie besuchen.
Neuschwanstein thront nicht weit von Füssen im Allgäu auf einem Berggrat hoch über der Pöllatschlucht – mit den schroffen Gipfeln der Allgäuer Alpen im Hintergrund in der Tat eine märchenhafte Kulisse. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt Hohenschwangau, das Ludwigs Vater Maximilian noch als Kronprinz auf den Ruinen der alten Burg Schwanstein im neugotischen Stil hatte erbauen lassen. Ludwig hatte dort einen Großteil seiner Kindheit verbracht, nun wohnte seine von ihm verachtete Mutter Marie, die als Bayerns erste Bergsteigerin geführt wird, alsKöniginmutter häufig dort, was ihm den Aufenthalt auf Dauer vergällte.
Hohenschwangau war Ludwig ebenso Inspiration wie die Wartburg in Thüringen und das schwärmerisch übertrieben wiederaufgebaute mittelalterliche Schloss Pierrefonds bei Compiègne nördlich von Paris. Beide hatte Ludwig 1867 besucht, Letzteres auf Einladung des französischen Kaisers Napoleon III . anlässlich des Besuchs der Pariser Weltausstellung. Nach diesen Reisen trat die Planung von Schloss Neuschwanstein in ihre konkrete Phase. Auch andere historistische Bauten hatten den jungen König beeindruckt, so die aufpolierten Rheinburgen, die Nürnberger Burg oder der nunmehr in Vollendung befindliche Kölner Dom. Dabei bewegten sich die Planungen keineswegs nur auf der Ebene schwärmerischer Fantasie: Der leidenschaftliche Bücherwurm Ludwig las in Mengen, was über das Mittelalter zu bekommen war, und ließ sich von Kunsthistorikern fundiert beraten. Bei den zahlreichen Abbildungen aus den altdeutschen Sagen verstand er keinen Spaß: Er kannte die Texte gut genug, um immer wieder zu monieren, die Malereien seien der Sagenwelt nicht exakt genug nachempfunden. In allen Details entschied der König selbst, vom Dekor an Lohengrins Schwanenboot bis zum Stoff eines Bankkissens in einem Ankleidezimmer.
Wie sein Vater nutzte Ludwig für Neuschwanstein Vorhandenes, ohne allzu konservativ damit umzugehen. Der Historismus des 19 . Jahrhunderts verstand den Begriff Restaurierung recht kreativ – eher setzte man die eigene Vorstellung von der Vergangenheit um, als dass man sie authentisch nachbildete. Vom Vorgängerbau war ohnehin nicht viel übrig – nur ein Turm und die Grundmauern, es gab keinerlei Ansichten oder Pläne. Das kam Ludwig zupass, der sich das Mittelalter zwar mit fachlicherRecherche, aber doch nach eigenen Vorstellungen und Sehnsüchten schaffen wollte.
Im September 1869 erfolgte die Grundsteinlegung, im darauffolgenden Frühjahr begannen die vom König mit »fiebernder Ungeduld«, wie ein Beteiligter beklagte, erwarteten Bauarbeiten. Alle Beteiligten mussten unter der königlich-unerbittlichen Hast leiden. Die Arbeiten zogen sich bis zum Tod Ludwigs 1886 hin und wurden erst 1892 provisorisch abgeschlossen. Im zuerst errichteten, 1872 fertiggestellten Torbau ließ sich der König eine kleine Wohnung einrichten, um die Bauarbeiten nicht mehr nur per Fernglas von Hohenschwangau aus verfolgen zu müssen.
Ludwig wünschte sich ein neuromanisches Schloss mit Torbau und Bergfried mit Kapelle, mit Palas, Kemenate und Ritterhaus. Im Palas befanden sich neben der Wohnung des Königs und dem Thronsaal die Unterkünfte für Personal und Gäste sowie der Küchentrakt und die Versorgungsgebäude. Der Sängersaal im obersten Stockwerk lehnte sich eng an die Wartburg an, bezog sich in seiner Ikonographie aber auf Wolframs von Eschenbach Parzival , während der fünfzehn Meter hohe, über zwei Stockwerke reichende Thronsaal, der nie einen Thron erhalten sollte, im byzantinischen Stil in Anlehnung an die Hagia Sophia in Konstantinopel gestaltet wurde: eine Huldigung längst vergangenen Sakralkönigtums, dem Ludwig nachtrauerte.
Die Privaträume des Königs im dritten Stock schwelgten wiederum in altdeutscher Überlieferung: Lohengrin, Tannhäuser, Walther von der Vogelweide. Moderner Komfort
Weitere Kostenlose Bücher