Die Neunte Gewalt
frösteln. Peet hatte sich mit Leeds zusammengetan. Vielleicht hatte Peet auch Lauren angegriffen; die Beschreibung ihrer Verletzungen ließ dies durchaus möglich erscheinen.
Was habe ich getan?
Kimberlain machte sich die größten Vorwürfe. Vorwürfe, daß er Peet überhaupt in die Sache hineingezogen hatte. Vorwürfe, daß er Lauren Talley einen Blick in die dunkle Welt hatte werfen lassen, in der er lebte, wo ihm doch hätte klar sein müssen, welche Risiken damit verbunden waren.
Der Fährmann las weiter. Man beschrieb ihn als bewaffnet und sehr gefährlich, und man hatte bundesweit die Fahndung nach ihm ausgeschrieben. Er senkte die Zeitung und gab sie dann Chalmers.
»Aber über den Ferienpark Towanda steht da nichts«, bemerkte Hedda, »und auch nicht über Tiny Tim. Das heißt, wir haben noch eine Chance.«
Kimberlain wandte ihr den Rücken zu und machte ein paar Schritte. »Seckle wird den Artikel auch lesen. Er wird heute abend zuschlagen, während man noch nach mir fahndet.«
»Warum?«
»Wenn ich tot bin oder im Gefängnis sitze, hat die Sache für ihn keinen Reiz mehr.«
»Und da ist … noch etwas«, sagte Chalmers. »Das ist Leeds' … Rückversicherung.«
»Falls uns die Flucht von der Insel gelingen sollte, würde Tiny Tim uns töten«, vollzog Hedda seine Gedanken nach. »Oder wir werden auf dem Weg zum Ferienhaus geschnappt.«
»So oder so, Leeds gewinnt.«
»Nein, denn eins hat er vielleicht nicht berücksichtigt.«
Kimberlain rief Captain Seven von einer Telefonzelle in der Nähe des Parkplatzes an. Es klingelte, doch niemand hob ab. Was bedeutete, daß der Captain aus dem Spiel war, zumindest für den Augenblick. Leeds hatte also doch an ihn gedacht.
»Wir stehen ganz allein«, sagte Kimberlain zu Chalmers und Hedda.
»Ohne eine einzige Waffe, abgesehen von meiner Pistole.« Sie zog sie unter ihrer Jacke hervor. »Noch ein Magazin. Vierzehn Schuß. Nicht viel gegen ein Monster wie Tiny Tim.«
»Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen.«
Garth Seckles Lieferwagen glitt durch den Regen. Die Nacht kam schnell, und der Sturm hatte den Himmel bereits grau gefärbt. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Wagen konnten ihn kaum erhellen. Seckle rutschte unruhig hin und her.
Er hatte den Fahrersitz den Anforderungen seines gewaltigen Körpers entsprechend umgebaut. Zu oft hatte er früher mit seinen über zwei Metern den Kopf einziehen müssen, damit er sich nicht am Himmel des Wagens rieb. Seckle haßte es, sich eingeengt zu fühlen; er verschaffte sich gern soviel Atemfreiheit wie möglich. Wahrscheinlich war das eine Reaktion auf all die verschwendeten Jahre.
Seine Zelle im Militärgefängnis hatte aus einem fensterlosen Loch von zweieinhalb mal zweieinhalb Metern bestanden. Nicht, daß das Fehlen eines Fensters ihn gestört hätte, nein. In seiner Seele gab es genug zu sehen, und dort fand Seckle während seiner Haftzeit auch die Vision.
Manchmal verlor der Lauf der Zeit während dieser Monate jede Bedeutung für ihn, zumindest im herkömmlichen Sinn. Er maß sie nicht in Stunden und Minuten, sondern in Gedanken und Vorstellungen. Jemand würde für San Luis Garcia, für seinen Vater bezahlen müssen.
Sein Vater war ein großer Mann gewesen, mißverstanden, aber wundersam begabt. Er hatte eine Vision gehabt, die ihm ermöglichte zu sehen, was andere nicht sehen konnten. Die Insel San Luis Garcia war ein Beweis dafür, was ein einziger Mensch erreichen konnte.
Dann waren die Caretakers gekommen, und Garth Seckle erschauerte jedesmal, wenn er sich an die blutige Schlacht erinnerte. Er hatte einen von ihnen schwer verwundet – da war er sich ganz sicher –, als der Raum, in dem er sich befand, explodierte. Er wurde durch eine Wand geschleudert und unter Schutt begraben. Nicht imstande, sich zu bewegen, und unter Schmerzen atmend, hatte er trotzdem nicht das Bewußtsein verloren. Er hörte Schreie, Schüsse und Detonationen, fühlte die Kugeln, als hätten sie ihn getroffen. Die Welt seines Vaters brach um ihn herum zusammen, und er konnte nichts dagegen tun.
Garth Seckle vermutete, daß er den Plan ursprünglich in diesem schier endlosen Augenblick gefaßt hatte, als er etwas brauchte, um seine Gedanken von den Schmerzen und dem Verlust abzuwenden. Als es vorüber war, gab es niemanden mehr, der ihm helfen konnte. Er mußte seine letzten Kraftreserven aufbringen, um sich aus dem Schutt zu befreien, der ihn bedeckte. Seine Verletzungen waren viel schwerwiegender, als er
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