Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
und setzt seinen Weg fort.
    Am nächsten Nachmittag wartet Blue, wieder als Landstreicher verkleidet, an derselben Stelle auf Black. Er ist entschlossen, das Gespräch diesmal, da er nun Blacks Vertrauen gewonnen hat, ein wenig in die Länge zu ziehen, aber ihm wird das Problem abgenommen, da Black selbst den Wunsch zeigt, bei ihm zu verweilen. Es ist schon spät am Tage, noch nicht Dämmerung, aber nicht mehr Nachmittag, die zwielichtige Stunde der langsamen Veränderungen, der glühenden Ziegel und Schatten. Nachdem er den Landstreicher herzlich begrüßt und ihm wieder eine Münze gegeben hat, zögert Black einen Augenblick, als überlegte er, ob er den Sprung wagen soll, und dann sagt er:
    Hat Ihnen schon jemand gesagt, dass Sie wie Walt Whitman aussehen?
    Walt wer?, antwortet Blue, seiner Rolle eingedenk.
    Walt Whitman. Ein berühmter Dichter.
    Nein, sagt Blue. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn kenne.
    Sie können ihn nicht kennen, sagt Black. Er lebt nicht mehr. Aber die Ähnlichkeit ist bemerkenswert.
    Nun, Sie wissen ja, wie man sagt, sagt Blue. Jeder Mensch hat irgendwo seinen Doppelgänger. Ich sehe nicht ein, warum meiner nicht ein Toter sein kann.
    Das Komische, fährt Black fort, ist, dass Walt Whitman in dieser Straße arbeitete. Er druckte sein erstes Buch hier, nicht weit von der Stelle, an der wir stehen.
    Was Sie nicht sagen, sagt Blue und schüttelt gedankenvoll den Kopf. Das stimmt einen nachdenklich, nicht wahr?
    Es gibt ein paar merkwürdige Geschichten über Whitman, sagt Black und fordert Blue mit einer Geste auf, sich auf die Treppe des Hauses hinter ihnen zu setzen. Das tut er, und dann setzt sich auch Black, und plötzlich sind nur noch die beiden da draußen im Sommerlicht zusammen und plaudern miteinander wie zwei alte Freunde über dies und das.
    Ja, sagt Black und setzt sich bequem zurecht in der Trägheit des Augenblicks, eine Anzahl sehr merkwürdiger Geschichten. Die über Whitmans Gehirn, zum Beispiel. Sein ganzes Leben lang glaubte Whitman an die Wissenschaft der Phrenologie. Sie wissen, das Deuten der Unebenheiten auf dem Schädel. Es war damals sehr populär.
    Kann nicht sagen, dass ich je davon gehört habe, antwortet Blue.
    Das spielt keine Rolle, sagt Black. Die Hauptsache ist, dass sich Whitman für Gehirne und Schädel interessierte – er glaubte, sie könnten einem alles über den Charakter eines Menschen sagen. Jedenfalls, als Whitman vor ungefähr fünfzig oder sechzig Jahren drüben in New Jersey im Sterben lag, stimmte er zu, dass man eine Autopsie an ihm vornahm, nachdem er gestorben war.
    Wie konnte er zustimmen, nachdem er gestorben war?
    Ah, ein guter Einwand. Ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Er lebte noch, als er zustimmte. Er wollte, dass sie wussten, dass er nichts dagegen hatte, wenn sie ihn später aufschnitten. Es war sozusagen sein letzter Wunsch.
    Berühmte letzte Worte.
    Richtig: Viele Leute dachten, er sei ein Genie, sehen Sie, und sie wollten sich sein Gehirn ansehen, um herauszubekommen, ob irgendetwas Besonderes daran war. Am Tag, nachdem er gestorben war, entfernte ein Arzt Whitmans Gehirn – er schnitt es einfach aus seinem Kopf heraus – und schickte es an die Amerikanische Anthropometrische Gesellschaft, um es dort messen und wiegen zu lassen.
    Wie ein riesiger Blumenkohl, wirft Blue ein.
    Genau. Wie ein großes graues Gemüse. Aber hier wird die Geschichte interessant. Das Gehirn kommt im Laboratorium an, und als sie sich gerade an die Arbeit machen wollen, lässt es einer der Assistenten auf den Boden fallen.
    Ist es auseinandergebrochen?
    Natürlich ist es auseinandergebrochen. Ein Gehirn ist nicht sehr zäh, wissen Sie. Es spritzte über den ganzen Boden, und das war’s. Das Gehirn des größten Dichters Amerikas wurde zusammengefegt und mit dem Kehricht weggeworfen.
    Blue, der daran denkt, seiner Rolle gemäß zu reagieren, stößt ein keuchendes Gelächter hervor – und imitiert damit überzeugend die Heiterkeit eines alten Kauzes. Auch Black lacht, und die Atmosphäre ist so weit aufgetaut, dass jeder annehmen würde, sie wären ihr Leben lang Kumpel gewesen.
    Immerhin, es ist traurig, an den armen Walt zu denken, wie er in seinem Grab liegt, sagt Black. Ganz allein und ohne Gehirn.
    Genau wie diese Vogelscheuche, sagt Blue.
    Richtig, sagt Black. Genau wie diese Vogelscheuche im Lande Oz.
    Nachdem sie noch einmal gelacht haben, sagt Black: Und nun erzähle ich Ihnen die Geschichte, wie Thoreau Whitman besuchte. Die ist auch

Weitere Kostenlose Bücher