Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Kamera. Ein Bild von Brown, der den Arm um Blue legt, aufgenommen vor ihrem Büro an dem Tag, an dem Blue sein Partner wurde. Darunter hängt ein Schnappschuss von Jackie Robinson, wie er auf das zweite Mal zuläuft. Daneben kommt ein Porträt von Walt Whitman. Und direkt links von dem Dichter hängt ein Standfoto von Robert Mitchum aus einem der Fan-Magazine: Mit dem Revolver in der Hand sieht er aus, als stürzte gleich die ganze Welt über ihm zusammen. Es gibt kein Bild der ehemaligen zukünftigen Mrs. Blue, aber jedes Mal, wenn Blue die Runde um seine kleine Galerie macht, bleibt er vor einer bestimmten leeren Stelle an der Wand stehen und tut so, als ob auch sie da sei.
    Mehrere Tage lang macht Blue sich nicht die Mühe, aus dem Fenster zu sehen. Er hat sich so vollständig in seine eigenen Gedanken eingeschlossen, dass Black nicht mehr da zu sein scheint. Das Drama ist jetzt allein Blues Drama, und wenn Black in einem gewissen Sinne seine Ursache ist, so ist es, als hätte er seine Rolle schon gespielt, als hätte er seine Sätze gesagt und wäre von der Bühne abgetreten. Denn Blue kann nun Blacks Existenz nicht mehr akzeptieren, und deshalb leugnet er sie. Nachdem er in Blacks Zimmer eingedrungen, nachdem er sozusagen in der innersten Sphäre von Blacks Einsamkeit gewesen ist, kann er auf die Dunkelheit dieses Augenblicks nicht anders reagieren, als sie durch seine eigene Einsamkeit zu ersetzen. In Black einzudringen war so viel, wie in sich selbst einzudringen, und sobald er einmal in sich selbst ist, kann er sich nicht mehr vorstellen, anderswo zu sein. Aber ebendort ist Black, auch wenn Blue es nicht weiß.
    Eines Nachmittags kommt Blue daher wie durch Zufall näher an das Fenster heran als seit vielen Tagen, er bleibt davor stehen und dann, wie um der alten Zeiten willen, schiebt er die Vorhänge auseinander und wirft einen Blick hinaus. Das Erste, was er sieht, ist Black. Er ist nicht in seinem Zimmer, sondern sitzt auf den Stufen seines Hauses auf der anderen Straßenseite und schaut zu Blues Fenster hinauf. Ist er am Ende?, fragt sich Blue. Heißt das, dass es vorbei ist?
    Blue holt seinen Feldstecher und kehrt zum Fenster zurück. Er stellt ihn auf Black scharf ein und studiert das Gesicht des Mannes mehrere Minuten lang, einen Zug nach dem anderen, die Augen, die Lippen, die Nase und so fort, er nimmt das Gesicht auseinander und setzt es dann wieder zusammen. Er ist gerührt von der Tiefe der Traurigkeit, von seinem Blick ohne jede Hoffnung, und wider Willen, überrascht von diesem Bild, fühlt Blue Erbarmen in sich aufsteigen, eine Anwandlung von Mitleid mit dieser verlorenen Gestalt auf der anderen Straßenseite. Er wünscht, es wäre nicht so, er wünscht, er hätte den Mut, seinen Revolver zu laden, auf Black zu zielen und ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Er würde nie wissen, was ihm geschehen ist, denkt Blue, er würde im Himmel sein, bevor er den Boden berührt. Aber sobald er diese kleine Szene in seinem Geist durchgespielt hat, schreckt er davor zurück. Nein, erkennt er, das wünscht er keineswegs. Aber wenn nicht das – was dann? Immer noch gegen die aufwallenden zarten Gefühle ankämpfend, sagt er sich, dass er allein gelassen werden will, dass alles, was er wünscht, Ruhe und Frieden ist. Allmählich wird ihm bewusst, dass er tatsächlich seit mehreren Minuten da steht und sich gefragt hat, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, Black zu helfen, ob es nicht möglich wäre, ihm in Freundschaft die Hand zu reichen. Das würde sicherlich den Spieß umdrehen, denkt Blue, das würde gewiss alles auf den Kopf stellen. Aber warum nicht? Warum nicht das Unerwartete tun? An die Tür klopfen, die ganze Geschichte auslöschen – es ist nicht weniger absurd als alles andere. Denn die Wahrheit ist, dass Blue des Kampfes müde ist. Er erträgt ihn nicht mehr. Und allem Anschein nach erträgt ihn auch Black nicht mehr. Sieh ihn dir nur an, sagt sich Blue. Er ist das traurigste Geschöpf der Welt. Und dann, in dem Augenblick, in dem er diese Worte sagt, versteht er, dass er auch von sich selbst spricht.
    Lange nachdem Black von den Stufen aufgestanden und wieder ins Haus gegangen ist, starrt Blue noch auf die leere Stelle. Eine Stunde oder zwei vor Anbruch der Dämmerung wendet er sich endlich vom Fenster ab, sieht die Unordnung, die er in seinem Zimmer geduldet hat, und verbringt die nächste Stunde damit aufzuräumen – er spült das Geschirr, macht das Bett, hängt seine Kleider in den

Weitere Kostenlose Bücher