Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
seinen Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dabei wunderte sie sich kurz, wieso er das Etablissement kannte, während sie selbst Tage gebraucht hatte, um an eine entsprechende Adresse zu gelangen. »Nicht so laut, man könnte uns hören.«
Statt einer Antwort öffneten sich seine Lippen, und seine Zungenspitze strich über ihren Finger. Sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt, und unterdrückte den Impuls, ihn zu ohrfeigen.
Ohne die Augen von ihrem Gesicht zu nehmen, beugte er sich vor und flüsterte. »Und was ist aus der Liebe Eures jungen Lebens geworden?«
Marie blinzelte verwirrt. Dann fiel ihr ein, dass er den König meinen musste. »Das hat nichts damit zu tun. Überhaupt nichts. Mein Herz ist nach wie vor vergeben. Aber ...«, sie konzentrierte sich darauf, ihrer Stimme wieder überzeugende Verzweiflung zu verleihen »... aber die Lust, die Ihr in mir geweckt habt, verfolgt mich bis in meine Träume. Nur eine Wiederholung kann mich davon befreien.«
Einen Moment sah er sie sprachlos an, dann warf er den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen. Marie biss sich auf die Lippen und hätte ihn am liebsten vors Schienbein getreten. Er beruhigte sich nur langsam, doch als er endlich zu sprechen anfing, klang seine Stimme erstaunlich sanft. »Euer Wunsch ist mir Befehl. Morgen Abend bei Madame Dessante. Ich werde zur Stelle sein und niemand wird davon erfahren.«
»Ich danke Euch.« Ihre Erleichterung war unüberhörbar und sie hoffte, dass er die versprochene Diskretion dafür verantwortlich machen würde. »Übrigens, Madame Dessante verlangt von ihren Gästen, dass sie maskiert erscheinen.«
»Ich weiß.« Sein Lächeln erinnerte an einen Kater, der sich an einem umgestürzten Sahnetopf gütlich tat.
Die Tatsache, dass er in Anbetracht seiner Reaktion Madame Dessantes Etablissement nicht nur kannte, sondern auch besucht hatte, verwirrte sie. Mit gerunzelter Stirn blickte sie ihm nach. Der Vorteil, den sie zu besitzen geglaubt hatte, zerfloss wie Schnee in der Sonne. Aber sie konnte nicht wählerisch sein, das Ergebnis allein zählte. Der Chevalier würde sich freiwillig in die für ihn ausgelegte Schlinge begeben. An ihr lag es, diese Schlinge zuzuziehen.
10
Der Ort um Versailles herum hatte sich zunehmend vergrößert, seit der König das Schloss zu seiner Hauptresidenz machte und Paris nur noch selten aufsuchte. Nicht nur Handwerker aller Art, auch wohlhabende Bürger und Adelige siedelten sich in einer Gegend an, in der es wenige Jahrzehnte zuvor nichts als eine Hand voll Bauernkeuschen gegeben hatte. Imposante palais und hôtels entstanden in dem Bestreben, dem König nahe zu sein und ihn mit diesen Bauwerken zu ehren. Da die Feste des Königs - bei allem atemberaubenden Prunk - nach strengen, voraussehbaren Regeln verliefen und dem Einzelnen wenig Raum für Entfaltung abseits von Billard und Kartenspielen ließen, siedelten sich Vergnügungsstätten unterschiedlichster Art an.
Madame Dessantes Etablissement war das erste von vielen, das gelangweilten Männern und Frauen für Zerstreuungen anderer Art offen stand. Es war kein normales Bordell. Zwar konnte man Frauen und Männer für Liebesdienste mieten, aber ebenso Räume für private Zusammenkünfte. Zwei- bis dreimal pro Woche gab es Abendgesellschaften, deren Orgien bis in die frühen Morgenstunden andauerten. Das Maskierungsgebot war nichts weiter als eine Charade, denn jeder der Anwesenden kannte jeden, auch wenn die Zusammensetzung der Gruppen wechselte.
Marie blickte sich im Empfangssalon des Etablissements um. Die Einrichtung war ebenso teuer wie überladen. Pompöse Lehnsessel aus Samt und Leder, schwere Brokatvorhänge, vergoldete Lüster und Kerzenständer, persische Teppiche, die jeden Ton verschluckten. Die Kleidung der anwesenden Gäste konnte dagegen als elegant, aber schlicht bezeichnet werden, vor allem, wenn man an die im Schloss üblichen prunkvollen Roben dachte.
Hüte und Mäntel waren bereits beim Eingang von dienstbaren Geistern entgegengenommen worden, die Gesichter der Anwesenden wurden von verschiedenartigsten Masken verdeckt. Marie selbst hatte eine einfache bordeauxrote Satinmaske gewählt, die zu ihrem Kleid passte und deren Oberkante schwarze Federn schmückten. Die Öffnungen für die Augen waren mit schwarzen Perlen bestickt.
Sie nahm ein Glas Champagner von der Anrichte und setzte sich auf ein Sofa, da der Chevalier noch nicht eingetroffen war. Das musste nichts bedeuten; ihre Nervosität
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