Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
hatte sie bewogen, früher zu erscheinen als nötig. Um sich zu beschäftigen, ordnete sie die Falten des schweren Taftrocks.
»Schöne Unbekannte, ist der Platz an Eurer Seite frei?«
Marie hob den Kopf. Natürlich erkannte sie die Stimme des Mannes, der sich - ohne auf ihre Antwort zu warten - neben sie gesetzt hatte. Die Stimme blieb allerdings das einzig Vertraute an ihm.
Sein Gesicht wurde von einer schwarzen Maske aus dünnem Handschuhleder von der Stirn bis zu seiner Oberlippe verdeckt. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, trug er keine der voluminösen gekräuselten Perücken, sondern hatte sein glattes schwarzes Haar im Nacken zusammengebunden. Statt der bunten, reichlich bestickten Wamse und verschwenderischen Spitzen hatte er einen Abendanzug aus schwarzem Brokat und eine weiße, kunstvoll gefältelte Halsbinde aus feinstem Leinen gewählt.
Als er nach ihrer Hand griff, um sie an seine Lippen zu ziehen, bemerkte sie das Fehlen der zahlreichen Ringe, die seine Finger sonst schmückten.
Sie versuchte, eine geistreiche Antwort auf seine Frage zu formulieren, aber die völlig veränderte Ausstrahlung des Chevaliers brachte sie aus dem Konzept. Dieser Mann bedeutete Gefahr. Das war nicht der jämmerliche, herumscharwenzelnde Günstling, der sich wie ein Fähnchen im Wind drehte. Oder drehen ließ.
Vielleicht war er das nie gewesen. Der Gedanke nahm ihr den Atem. Konnte sie sich so getäuscht haben? Hatte sie ihn so falsch eingeschätzt? War es möglich, dass er längst die Fäden in der Hand hielt, weil er von ihrem Plan erfahren hatte?
Ein Schauer lief über ihren Rücken. Sie sollte zusehen, dass sie verschwand. Ihre Hand lag noch immer in seiner, und zu ihrem Entsetzen bemerkte Marie, dass sie zitterte. Sie versuchte, ihm die Hand zu entziehen, doch er hielt sie fest. Kräftige Finger. Warme, kräftige Finger. Ihre eigenen schienen dagegen zu Eis erstarrt.
»Aufgeregt, schöne Maske?«
Der Duft nach Veilchen brachte sie zur Besinnung. Er war nur ein Mann. Ein Mann, der mit einem guten Fick rechnete. Egal, was er wusste oder nicht wusste, sie würde ihren Plan verfolgen. Bis zum bitteren Ende.
»Überrascht. Ich wusste nicht, dass Ihr die Maskierung so weit treiben würdet«, entgegnete sie leichthin.
»Um Euch zu gefallen, ist mir keine Mühe zu groß«, säuselte er und hob ihre Hand ein zweites Mal an seine Lippen. Allerdings presste er dieses Mal seinen Mund auf ihre Handfläche und zeichnete mit seiner heißen Zunge ein Ornament darauf.
Als er den Kopf hob, schaffte es Marie endlich, ihm ihre Hand zu entziehen. Auf diesem Terrain fühlte sie sich sicher. Geplänkel dieser Art erlebte sie tagtäglich. »Also muss ich mit keiner Enttäuschung rechnen?«, fragte sie leichthin.
Der Blick seiner blauen Augen hielt sie gefangen. Was immer er wusste oder nicht wusste, dieser Hunger sprach eine deutliche Sprache. Marie entspannte sich.
»Ich nehme nicht an, dass Ihr im Zweifelsfall bereit wäret, Eure Ansprüche zu senken?«
Marie lachte. »Ganz bestimmt nicht.«
»Nun, dann bleibt mir nur, Euch zu erinnern, dass dieses Spiel bloß so gut ist wie die daran beteiligten Spieler.« Er nahm ihr ohne Umschweife das Glas aus der Hand und trank es aus. »Auch ich bin nicht bereit, meine Ansprüche zu senken, schöne Maske.«
Unbeeindruckt erwiderte Marie seinen Blick. »Eine Antwort darauf würde mir leichter fallen, wenn ich Eure Ansprüche kennen würde.«
»Ihr werdet sie kennen lernen, das versichere ich Euch.«
Marie ignorierte die in seinen Worten mitschwingende Drohung. »Dann wäre es vielleicht besser, ich antworte Euch, wenn es so weit ist.«
»Einverstanden, man schreitet ohnehin zum Dîné.« Er stand auf und reichte ihr seinen Arm.
Marie hatte für die aufgetragenen Delikatessen keinen Blick. Das lag zum einen an den anderen Gästen, die dem Wein ebenso ungeniert zusprachen, wie sie ihre Hände unter den Kleidern ihrer Tischnachbarn spazieren gehen ließen; zum anderen an ihrer immer größer werdenden Nervosität, die sie für die mit schwüler Erotik geschwängerte Atmosphäre empfänglich machte. Sie brachte nicht mehr als ein paar Bissen hinunter und hielt sich auch beim Wein zurück.
Der Chevalier dagegen bediente sich so reichlich an Speis und Trank, als ob er tagelang gehungert hätte. Allerdings behielt er seine Hände bei sich und beschränkte seine Aufmerksamkeiten auf Zweideutigkeiten bei der Konversation und auf tiefe Blicke. Marie wusste nicht, ob sie für die Entwicklung
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