Die Nirgendwojagd
der verrückte Kell. Die Normalen, wenn überhaupt welche von ihnen normal sind… Sie biß sich auf die Lippe, als sie Kells Gesicht wieder vor sich sah, wie sie es auf Sunguralingu gesehen hatte, sah ihn, wie er ihr aus Grünsteinaugen Haß entgegenschleuderte. Und jetzt, da sie an Kell dachte, erinnerte sie sich auch an seine Drohung gegen ihren Sohn, den Jungen, den sie seit mehr als fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das war eine alte Wunde, aber der Schmerz war nach wie vor stark genug, daß sie zu vermeiden versuchte, darüber nachzudenken … aber gleichzeitig mußte sie sich fragen, ob er sich überhaupt an sie erinnerte, und wenn, was er von ihr hielt. Ich habe meine Mutter gehaßt, als ich herausfand, daß sie ohne mich weggegangen war… „Verdammt!”
„Was - verdammt?” Swardheld schaute zu ihr auf, seine hellen Augen eine Überraschung, sooft sie in sie hineintauchte. Die Verbindung zwischen ihnen war noch immer ungewöhnlich stark, und sie wußte, daß er genauso wenig geneigt war wie sie, das zu wiederholen, was vorhin passiert war.
„Zähle meine Komplikationen. Das ist nicht so beruhigend wie Schafezählen.” Sie wandte sich ihm zu. „Was jetzt?”
Er verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. „Ich werde nicht mit dir nach Wolff zurückkehren.”
„Aber du kommst wieder? Nach einer Weile?”
„Nach einer Weile. Du trägst ein paar von meinen Freundinnen mit dir herum.” Er gähnte, lächelte sie verschlafen an. „Hör auf, so einen Wirbel zu machen, Lee. Ruh dich ein wenig aus. Keine Komplikationen mehr bis morgen.”
Die Jagd
11. Roha
Roha hörte auf zu laufen und suchte sich vorsichtig ihren Weg durch den Nebel, verwirrt und unglücklich - unglücklich, weil sie ihr Weltbild ausgerechnet durch eine Dämonin bedroht fand, eine feuerhaarige Dämonin, die absolut böse hätte sein müssen, deren Handlungen jedoch beinahe unbegreiflich waren. „Dumm. Sie ist dumm”, flüsterte Roha immer wieder vor sich hin, während sie die Erinnerung an die Wärme und Sanftheit der Dämonenhände auszusperren versuchte. Sie rieb die Hände über ihre flache, schmale Brust hinunter, wo noch immer Blutspuren auf der Haut klebten. Sie hörte das Sprudeln einer kleinen Quelle und schob sich um Büsche herum, die wenig mehr als Schatten in Dunkelheit und Nebel waren, bis sie ein kleines, rundes Loch im Felsen entdeckte, aus dem Wasser emporsprudelte und überlief, um sich wieder und immer wieder in einer Vertiefung zu sammeln, die im Laufe vieler Jahre in den Fels gewaschen worden war.
Weiter von der Quelle entfernt war das Wasser kühler, kühl genug, daß sie ihre Hände hineintauchen konnte. Sie spritzte Wasser über ihren zitternden Körper und wusch die letzten Blutflecken und die alten, angetrockneten Schmierstreifen des Schleimmooses ab.
Als sich ihre straffen Muskeln unter der Einwirkung der Hitze entspannten, überspülte sie die Erschöpfung. Sie schloß die Augen und kniete sich neben der Quelle nieder, atmete die heiße, feuchte Luft ein, bis sie beinahe schlief, und ihr Verstand trieb in chaotischen Wahnbildern. Nach mehreren Minuten bewegte sie sich wieder, rieb sich die Augen, zwang sich dann aufzustehen. Über ihr, im Nebel, sammelten sich die Schwebenden Geister, fingen an, miteinander zu verschmelzen, und im Nebel der näheren Umgebung konnte sie es rascheln und scharren hören: Die Nachtläufer begannen ihr Herumstöbern.
Trostlos, weil ihre Empfindungen und ihr Verstand sie zerrissen, ging sie in Richtung Churrs und der Krieger, zurück zu jenen ihrer Art, verlangte blind nach der Beruhigung, die sie aus ihrer Gegenwart empfangen würde … Wachsam eilte sie durch die Nebel, und Erfahrung und eine schärfer werdende Nachtsicht leiteten sie sicher durch die Tücken dieses Landes, bis sie einen verschwommenen Fleck roten und gelben Lichts vor sich flackern sah.
Bald darauf ließ sie sich neben Churr niederfallen, streckte die Hand aus und berührte sein Bein, das feste, kühle Fleisch eine Bestätigung der Realität, ihre Hand auf ihm eine Zusicherung ihres Anspruchs auf Zugehörigkeit zum Stamm. Er machte sich frei und stapfte zum Feuer und ließ sie mit ihrer Angst allein, einer Angst, die sie niemals so stark empfunden hatte, obwohl sie gelegentlich einen Anflug davon gespürt hatte. Mit einem angespitzten, durch einen Fleischbrocken gespießten Stock kam er zurück. Wortlos reichte er ihn ihr, entfernte sich dann wieder und setzte sich in den Kreis um das Feuer,
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