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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten
Autoren: Roberto Bolaño
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Sevillaner haben sollte: Statt eines Fahrscheins zum richtigen Bestimmungsort erhielt er einen, der ihn zu den Kasernen eines dreihundert Kilometer von seinem Regiment entfernt stationierten SS-Bataillons beförderte. Dort sah er sich von Deutschen, Österreichern, Letten, Litauern, Dänen, Norwegern und Schweden umgeben, die allesamt größer und kräftiger waren als er, und versuchte den Irrtum aufzuklären, aber die SS-Leute vertrösteten ihn, und während die Angelegenheit noch untersucht wurde, ließen sie ihn mit dem Besen die Kaserne fegen und mit Eimer und Putzlappen das gewaltige, längliche Holzgestell säubern, auf dem sie alle Arten von Gefangenen verhörten und folterten. Ohne vollends klein beizugeben, erfüllte der Sevillaner gewissenhaft seine neue Aufgabe und sah von seiner neuen Kaserne aus die Zeit vergehen, bekam auch viel besser zu essen als vorher und wurde keinen neuerlichen Gefahren ausgesetzt. Da wurde auf der dunklen Seite seines Gedächtnisses das Wort Rekrut wieder lesbar. Ich bin ein Rekrut, dachte er bei sich, ein blutiger Anfänger, und muss mein Los akzeptieren. Das Wort Kantor verblasste nach und nach, obwohl es an manchen Nachmittagen unter einem grenzenlosen Himmel, der ihn mit Sehnsucht nach Sevilla erfüllte, noch hie und da widerhallte. Eines schönen Tages geschah, was geschehen musste. Die Kaserne des SS-Bataillons wurde angegriffen und eingenommen, von einem russischen Kavallerieregiment, so die einen, von Partisanen, so die anderen. Das Ergebnis war, dass die Russen den Sevillaner fanden, versteckt in dem länglichen Gebäude, bekleidet mit seiner Uniform eines SS-Gehilfen und umgeben von den Requisiten nicht allzu ferner Gräuel. Auf frischer Tat ertappt, könnte man sagen. Unverzüglich sah er sich an einen der Stühle geschnallt, die die SS für ihre Verhöre benutzte, einen Stuhl mit Riemen an den Beinen und Armlehnen, und auf alle Fragen der Russen antwortete er auf Spanisch, dass er nicht verstehe und nur Befehle ausführe. Er versuchte, das auch auf Deutsch zu sagen, aber er kannte in dieser Sprache nur zwei, drei Wörter, die Russen gar keine. Nach einer ersten Behandlung mit Ohrfeigen und Fußtritten gingen sie jemanden holen, der Deutsch sprach und damit beschäftigt war, in einer anderen Zelle des länglichen Gebäudes Gefangene zu verhören. Bevor sie zurückkamen, hörte der Sevillaner Schüsse, begriff, dass SS-Leute umgebracht wurden, und verlor fast alle Hoffnung; doch als die Schüsse verstummten, klammerte er sich erneut mit aller Macht an sein Leben. Der Deutsch sprechende Russe fragte ihn, was er hier tue, welche Funktion und welchen Dienstgrad er habe. Der Sevillaner versuchte sich auf Deutsch verständlich zu machen, aber vergeblich. Daraufhin öffneten die Russen ihm den Mund und begannen, mit einer Zange, die die Deutschen für andere Zwecke vorgesehen hatten, seine Zunge langzuziehen und zu quetschen. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, und er sagte, oder brüllte vielmehr, das Wort coño. Mit der Zange im Mund aber verwandelte sich der spanische Fluch und trat als kunst ins Freie. Der Deutsch sprechende Russe sah ihn erstaunt an. Der Sevillaner brüllte kunst, kunst und heulte vor Schmerz. Es war das deutsche Wort Kunst, was der zweisprachige Soldat verstand, und er sagte, der Dreckskerl da sei ein Künstler oder so was Ähnliches. Die Peiniger des Sevillaners zogen die Zange mit einem Stückchen Zunge daran heraus und warteten ab, vorübergehend hypnotisiert von der Entdeckung. Von dem Wort Kunst. Das die Bestien besänftigt. Und als besänftigte Bestien gönnten sich die Russen eine Atempause und warteten auf irgendein Signal, während der Rekrut aus dem Mund blutete und sein mit einer Menge Speichel vermischtes Blut hinunterschluckte, sich verschluckte und übergab. Das Wort coño, seine Metamorphose zu Kunst, hatte ihm das Leben gerettet. Zusammen mit dem spärlichen Rest der Gefangenen wurde er von den Russen abtransportiert, und wenig später konnte sich ein anderer Russe, der Spanisch sprach, seine Geschichte anhören, und der Sevillaner landete in einem Kriegsgefangenenlager in Sibirien, während seine zufälligen Spießgesellen standrechtlich erschossen wurden. In Sibirien blieb er bis weit in die fünfziger Jahre. 1957 ließ er sich in Barcelona nieder. Manchmal tat er den Mund auf und erzählte mit viel Humor von seinen Schlachten. Andere Male tat er den Mund auf und zeigte allen, die es sehen wollten, die Zunge mit dem
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