Die Noete des wahren Polizisten
fehlenden Stück. Es war kaum zu sehen. Wenn man den Sevillaner darauf ansprach, erklärte er, das Stück Zunge sei mit der Zeit nachgewachsen. Amalfitano kannte ihn nicht persönlich, aber als man ihm die Geschichte erzählte, lebte der Sevillaner noch in einer Hausmeisterwohnung in Barcelona.
8
Einmal nahm Castillo Amalfitano mit zu Juan Ponce Esquivel, Student der Schönen Künste und Zahlenmystiker in seiner Freizeit, der in einer der ärmlichsten Siedlungen von Santa Teresa wohnte, in Aquiles Serdán, westlich von El Milagro, durch das die Gleise der ehemaligen Eisenbahnlinie führten. Ursprünglich sollte Ponce ihnen die Zukunft voraussagen, aber bei ihrer Ankunft fanden sie ihn vertieft in die Zahlen des vaterländischen Schicksals. Ich glaube, die Helden werden sich wiederholen, sagte Ponce, während er ihnen eine Tasse Kaffee reichte. Carranza, zum Beispiel, wurde schon geboren. Er wird im Jahr 2020 sterben. Villa auch: Er ist augenblicklich ein Jugendlicher, der sich mit Drogenhändlern, Prostituierten und illegalen Einwanderern herumtreibt. Er wird 2023 in einem Kugelhagel sterben. Obregón wurde 1980 geboren, und 2028 wird man ihn umbringen. Elías Calles wurde 1977 geboren und wird 2045 sterben. Huerta wurde im Jahr des Atombombenabwurfs über Hiroshima geboren und wird 2016 sterben. Pascual Orozco wurde 1982 geboren und wird 2016 sterben. Madero wurde 1973 geboren, im Jahr von Allendes Sturz, und 2013 wird man ihn ermorden. Alles wird sich wiederholen. Gebannt wird das mexikanische Volk neuerliche Ströme von Blut fließen sehen, beim Gedanken an das Jahr 2015 wird mir mulmig. Zapata wurde schon geboren, 1983, er ist noch ein Knirps, der auf der Straße spielt oder drei, vier Gedichte von Amado Nervo oder vier Poemínimos von Efraín Huerta auswendig lernt. Er wird 2019 von Kugeln durchsiebt sterben. Die Zahlen sagen, dass sich alles wiederholen wird. Die Helden, die Soldaten, die unschuldigen Opfer werden erneut geboren werden. Die wichtigsten sind schon geboren, allen voran die, die sterben werden. Einige aber fehlen. Die Zahlen sagen, dass man Aquiles Serdán erneut töten wird. Verfluchtes Glück, verfluchtes Schicksal.
Es lebe Mexiko, sagte Castillo.
Amalfitano sagte nichts, aber er hatte den Eindruck, als würde jemand, eine vierte Person, von einem angrenzenden Raum oder aus einer großen Truhe an der Rückwand von Juan Ponce Esquivels Zimmer etwas sagen: Wie bitte? Ist da jemand? Wie bitte, wie bitte?
9
Zwischen der medizinischen Fakultät und der Ebene, durch die sich die Straße nach Osten zog, einer offenen und kahlen, von gelben Hügeln kaum unterbrochenen Weite unter einem hohen und beweglichen Himmel, lag der berühmte Botanische Garten von Santa Teresa, eine Einrichtung der Universität.
»Kommen Sie und sperren Sie die Augen auf«, sagte Professor Horacio Guerra.
Unter der Obhut von vier gelangweilten Gärtnern gedieh dort ein kleines Wäldchen mit je drei Exemplaren von jeder Art. Die schmalen, von Feldsteinen gesäumten Wege wanden sich schlangengleich durchs Innere des Gartens; in der Mitte erhob sich ein schmiedeeiserner Pavillon, und hie und da fand der Besucher an willkürlich gewählten Stellen Bänke aus Kalkstein, auf denen er pausieren konnte. Kleine, in den Boden gespießte Schildchen informierten über die Namen von Baum oder Pflanze.
Guerra bewegte sich dort wie ein Fisch im Wasser, schritt rasch aus, musste nicht auf die Schildchen schauen, um Amalfitano anzugeben, welche Pflanzenart er vor sich hatte und aus welcher Region Mexikos sie stammte, sein Orientierungssinn war ausgezeichnet, in dem Gewirr dunkler Pfade, die Amalfitano an das Labyrinth eines englischen Gartens erinnerten, nur irgendwie barock und übergeschnappt, fand Guerra sich mit geschlossenen Augen zurecht. So ist es, sagte er, als Amalfitano ihn nicht ohne Bewunderung darauf hinwies, wenn Sie wollen, können Sie mir die Augen mit einem Tuch verbinden, und seien Sie unbesorgt, ich bringe Sie sicheren Fußes hier wieder raus.
»Nicht nötig, ich glaube es Ihnen«, sagte Amalfitano erschrocken, als er sah, dass Guerra vom Wort zur Tat schritt und ein leuchtend grünes Taschentuch mit dem Emblem der Universität von Charleston aus der Tasche seines Sakkos zog.
»Binden Sie es mir um«, brüllte Guerra mit einem Lächeln, das bedeuten sollte, so bin ich halt, keine Angst, ich bin nicht verrückt.
Im nächsten Moment trocknete er sich mit dem Tuch die Stirn.
»Schauen Sie sich die Pflanzen und
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