Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
Vom Netzwerk:
Gerätschaften entledigten. Sie gehen nach Hause, dachte er, während er Guerra ins immer dunklere Innere des Gartens folgte. Die Gastfreundschaft dieses Mannes überfordert mich, dachte Amalfitano. Guerras monotone Stimme zählte weiter die Perlen des Botanischen Gartens auf:
    »Die Fichte. Die Tanne. Guayule- und Candelilla-Sträucher. Der Epizote oder Drüsengänsefuß ( Chenopodium ambrosioides ). Der Zacatón ( Epicampus macroura ). Der Otate ( Guadua amplexifolia ). Und hier«, sagte Guerra und machte endlich halt, »unser Nationalbaum, zumindest nach meinem Dafürhalten, der Ahuehuete, die Sumpfzypresse, lieb und treu ( Taxodium mucronatum ).
    Amalfitano betrachtete Guerra und den Baum und dachte erschöpft, aber auch gerührt, dass er wieder in Amerika war. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die er sich später nicht würde erklären können. Drei Meter von ihm entfernt und mit dem Rücken zu ihm zitterte Professor Guerra.

10
     
    Padillas nächster Brief handelte von Raoul Delorme und der von Delorme Mitte der sechziger Jahre gegründeten Sekte der Barbarischen Literaten. Während Frankreichs zukünftige Romanciers die Fensterscheiben ihrer Gymnasien einwarfen oder Barrikaden errichteten oder die körperliche Liebe entdeckten, zogen sich Delorme und die Keimzelle der späteren Barbarischen Literaten in winzige Mansarden, Pförtnerlogen, Hotelzimmer, Laden- und Lagerräume zurück und bereiteten der Ankunft einer neuen Literatur das Feld. Mai 68 war für sie, Padillas Quellen zufolge, ein Seminar der Einkehr und Kreativität: Sie gingen nicht auf die Straße (sie aßen gehortete Lebensmittel oder fasteten), sie sprachen nur untereinander, übten sich allein oder in Dreiergruppen in neuen Schreibtechniken, die die Welt in Staunen setzen sollten, und sahen den Zeitpunkt ihres öffentlichen Durchbruchs voraus, den sie anfangs irrtümlich auf das Jahr 1991 datierten, nach einer Neuinterpretation aber auf das Jahr 2005 verschoben. Die von Padilla zitierten Quellen entstammten Zeitschriften, von denen Amalfitano noch nie gehört hatte: dem Literaturanzeiger von Evreux , Nr. 1, der Metzer Literarischen Revue , Nr. 0, der Nachtwächterpostille von Arras , Nr. 2, dem Literatur- und Wirtschaftsanzeiger der Obstgenossenschaft von Poitou, Nr. 4. Eine »Gründungselegie«, unterzeichnet von einem gewissen Xavier Rouberg (»Wir begrüßen eine neue literarische Schule « ), war zweimal, im Literaturanzeiger und in der Literarischen Revue , erschienen. Die Nachtwächterpostille enthielt einen Kurzkrimi von Delorme und ein Gedicht von Sabrina Martin (»Das Innere und das Äußere Meer«) mit einer kurzen Einleitung von Rouberg, die nichts anderes als eine Zusammenfassung seiner »Gründungselegie« war. Im Literatur- und Wirtschaftsanzeiger erschien unter der Überschrift »Die Barbarischen Dichter: Wenn Liebhaberei zum Beruf wird« eine Anthologie von sechs Lyrikern (Delorme, Sabrina Martin, Ilse von Kraunitz, M. Poul, Antoine Dubacq, Antoine Madrid), die jeweils mit einem Gedicht vertreten waren, ausgenommen Delorme und Dubacq, die drei beziehungsweise zwei Gedichte beisteuerten. Wie um das Ausmaß dichterischer Liebhaberei zu bekräftigen, gab es zu jedem Namen neben einem Passfoto auch einen Hinweis auf die jeweilige Alltagsbeschäftigung, und so erfuhr der Leser, dass Delorme eine Bar besaß, von Kraunitz als Pflegerin in einem Straßburger Krankenhaus beschäftigt war, Sabrina Martin bei mehreren Pariser Familien als Haushaltshilfe arbeitete, M. Poul Metzger war und Antoine Madrid und Antoine Dubacq sich an verschiedenen Zeitungsständen ihren Lebensunterhalt als Kioskverkäufer verdienten. Über Xavier Rouberg, den Johannes der Täufer der Barbarischen Literaten, hatte Padilla, wie er schrieb, Erkundigungen eingezogen: Er war demnach sechsundachtzig, hatte eine Vergangenheit wie ein löchriger Flickenteppich, hatte in Indochina gedient, eine Zeitlang pornographische Bücher verlegt, vorübergehend mit Kommunismus, Faschismus und Surrealismus geliebäugelt (er war mit Dalí befreundet gewesen und hatte ein belangloses Buch über ihn veröffentlicht: Dalí, für und wider die Welt ). Anders als die Barbarischen Literaten entstammte Rouberg gutbürgerlichen Verhältnissen und hatte studiert. Alles deutete daraufhin, dass die Barbaren der letzte Strohhalm waren, an den Xavier Rouberg sich klammerte. Wie fast alle Briefe von Padilla endete auch dieser abrupt. Ohne mach’s gut und bis bald. Amalfitano las ihn in

Weitere Kostenlose Bücher