Die Noete des wahren Polizisten
des Horrors, war aber zugleich ein religiöser Text voll schwarzen, menschlichen und melodramatischen Humors, hart und bedeutungslos wie alles, was wirklich hart ist, das heißt, wie alles, was weich ist. Amalfitano begann zu weinen. Sein Häuschen, sein knochentrockener Garten, der Fernseher und der Videorekorder, die großartige Dämmerung des mexikanischen Nordens erschienen ihm wie Rätsel, die, mit Kreide auf die Stirn geschrieben, ihre eigenen Antworten mit sich herumtrugen. Alles so schlicht und so schrecklich, dachte er. Dann erhob er sich von seinem klapprigen gelben Sofa und zog die Vorhänge zu.
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Und was lernten Amalfitanos Studenten? Sie lernten, laut zu rezitieren. Sie lernten die zwei oder drei Gedichte auswendig, die sie am meisten liebten, um sie bei passender Gelegenheit anzubringen: Bei Begräbnissen, Hochzeiten, Trauerfeiern. Sie begriffen, dass ein Buch ein Labyrinth und eine Wüste war. Dass Lesen und Reisen wichtiger war als alles andere auf der Welt, vielleicht sogar ein und dasselbe, und man damit nie aufhören durfte. Dass die Schriftsteller, die gelesen wurden, die Seele der Steine verließen, wo sie nach dem Tod lebten, und sich in der Seele der Leser wie in einem weichen Gefängnis niederließen, dass dieses Gefängnis sich aber dann blähte und explodierte. Dass jedes System einer Schreibweise ein Verrat ist. Dass die wahre Poesie zwischen Abgrund und Unglück zu Hause ist und dass dicht an ihrem Haus Marcabrus Königsweg der Willkürtaten, der Eleganz der Augen und des Glücks vorbeiführte. Dass die wichtigste Lektion der Literatur die Tapferkeit war, eine seltene Tapferkeit, wie ein steinerner Brunnen inmitten einer Seelandschaft, eine Tapferkeit, vergleichbar einem Strudel und einem Spiegel. Dass Lesen nicht bequemer war als Schreiben. Dass man durch Lesen zweifeln und erinnern lernt. Dass die Erinnerung die Liebe war.
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Amalfitanos Sinn für Humor ging gewöhnlich mit seinem Sinn für Geschichte Hand in Hand, und beide waren dünn wie Draht: ein Knäuel, in dem sich das Entsetzen mit dem staunenden Blick paarte, einem Blick, der weiß, dass alles ein Spiel ist, und deshalb vielleicht behielt Amalfitanos in der Strenge des dialektischen Materialismus geschmiedeter Verstand jenseits dieser seltenen Gefühlsausbrüche ein trauriges, in gewisser Weise beschämtes Bewusstsein seiner selbst. Aber so war sein Sinn für Humor, und er konnte es nicht ändern.
Einmal, er lehrte damals noch in Italien, fand er sich, er wusste selbst nicht, wie und warum, bei einem Informellen Dinner der Neuen Italienischen Patrioten wieder, ebenjenen, die ein paar Jahre später die Neue Rechte gründeten.
Das Dinner fand in einem bekannten Hotel in Bologna statt, und zwischen dem Nachtisch und den Cocktails setzte es Reden. Irgendwann, offenbar infolge einer persönlichen Verwechslung, kam die Reihe an Amalfitano. Seine kurze, mehr oder weniger konzise Rede, vorgetragen in einem passablen Italienisch, in dem nicht wenige einen echten oder vorgetäuschten zentraleuropäischen Akzent ausmachen zu können glaubten, handelte vom Geheimnis der bewunderungswürdigen Völker. Mit zwei Sätzen handelte er die Römer und die Renaissancefürsten ab (mit leiser Anspielung auf die Tragödie der Orsini, wobei er sich wahrscheinlich auf die Orsini von Mujica Láinez bezog) und konzentrierte sich rasch auf das Thema seines Toasts: der Zweite Weltkrieg und die Rolle Italiens. Eine Rolle, welche die Geschichte verzerrt und die Theorie verdunkelt: die synthetische, im Geheimnis geschmiedete Heldentat der mutigen Gebirgsjäger und schneidigen Bersaglieri. Anschließend, und ohne die Sache zu vertiefen, fragte er sich, was zum Beispiel die Franzosen von der Waffen-Grenadier-Division Charlemagne geleistet hatten, was die Kroaten, die Österreicher, die Nordlichter der Division Wiking, und was letzten Endes die Amerikaner der 82. Luftlandedivision oder der 1. Panzerdivision, die Germanen der 7. Panzerdivision oder die Russen der 3. Panzerarmee. Glorreiche Plünderungen, die, dachte er laut, verblassen im Vergleich zu den zahllosen Mühsalen des Griechenlandfeldzugs des alten Badoglio oder des Libyenfeldzugs des ungestümen Graziani, Zugpferd des Italienertums, Tränke, an der die Strategen der Zukunft Labung finden, wenn das Geheimnis dereinst offenbar wird. Die Streifzüge durch die Wüste, sagte er und reckte den Finger zur Decke, die Verteidigung der Festungen bis zum letzten Mann, Sturmangriff und aufgepflanztes
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