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Die Noete des wahren Polizisten

Die Noete des wahren Polizisten

Titel: Die Noete des wahren Polizisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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sich ihre Mutter in den Sessel und begann französische Gedichte zu lesen. An die Namen der Bücher erinnerte sie sich nicht, an die der Dichter schon. Manchmal weinte ihre Mutter. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und dann ließ sie das Buch auf den Schoß sinken und lächelte sie an (sie saß neben ihr auf einem Puff oder lag ausgestreckt auf dem Teppich und malte), trocknete sich mit einem Taschentuch oder dem Ärmel ihrer Bluse die Tränen, und für ein paar Sekunden, sie weinte schon nicht mehr, betrachtete sie schweigend die Umrisse der drei Gebäude und die Dächer und Dachgärten der niedrigeren Häuser. Dann nahm sie das Buch wieder auf und las weiter, als sei nichts geschehen. Die Dichter waren Gilberte Dallas, Roger Milliot, Ilarie Voronca, Gérald Neveu …
    Als sie aus Rio fortgingen, ließen sie die Bücher zurück, mit Ausnahme von Neveus Fournaise obscure . In Paris (oder Italien?) fand sie sie wieder: Die Dichter waren alle in der Anthologie Poètes maudits d’aujourd’hui 1946–1970 von Pierre Seghers enthalten. Ein erlauchter Kreis von Selbstmördern und Gescheiterten, Alkoholikern und Wahnsinnigen. Die Dichter ihrer Mutter.
    Außerdem, das ist sicher, las sie ihr Verse von Éluard vor, von Bernard Noël (der ihr sehr gefiel und sie häufig zum Lachen brachte), von Saint-John Perse und sogar von Patrice de la Tour du Pin, aber es waren die Maudits d’aujourd’hui , an die sie sich mit größerer Unruhe erinnerte oder zu erinnern glaubte, Namen, die in Brasilien, Argentinien oder Mexiko wenigen bekannt waren und die Edith Lieberman zum Weinen brachten, sie vielleicht an ein anderes Leben erinnerten, an den Moment des Bruchs mit jenem anderen Leben, als sie am Collège de France studierte und mit Jungs aus der jüdischen Gemeinde flirtete, als sie Brahms hörte und sich keinen Film mit Audrey Hepburn entgehen ließ. Vielleicht sah ihre Mutter sich in der Wohnung in Rio ihrerseits als verfemte Dichterin Frankreichs und liebte es, wie nur die Verfemten es lieben, auf die Szenen eines verschmähten, aber am Ende traurig verlorenen Glücks zurückzuschauen. Rosa dachte: Verloren in dem Moment, wo der auftauchte, der später mein Vater wurde, mit seiner proletarischen Avantgarde und seinen gewaltigen Plänen. Wäre er nicht aufgetaucht, würden ihre Mutter und sie dann jetzt unbeschwert in Chile leben, in Santiago, und sich ihres Lebens freuen, sich jeden Abend alles von sich erzählen, einander ständig nah sein? Aber der Mistkerl der proletarischen Avantgarde nahm urplötzlich Gestalt an, wie vom Schicksal hochgebeamt, das war eine Tatsache, und daran ließ sich nichts ändern. Wahrscheinlich wären sie auch nicht in Chile, umso besser, das wenige, was sie von diesem Land wusste, ließ ihr die Haare zu Berge stehen, sogar der chilenische Akzent, dieser Akzent, den ihr Vater sich auch nach all den Jahren noch bewahrte, wirkte auf sie fremd, unangenehm, gekünstelt. Natürlich sprach sie selbst nicht so. Irgendwann hatte sie sich gefragt, was das für ein Akzent war, mit dem sie sprach, und kam zu dem Schluss, dass sie keinen hatte: Sie sprach ein Vereinte-Nationen-Spanisch.
    Von den Verfemten mochte sie Gilberte Dallas am liebsten. Ihrer Mutter gefielen eher Gerald Neveu oder Ilarie Voronca, aber Gilberte Dallas, die Gilberte, war die beste. Sie stellte sie sich groß und knochig vor, mit einem Gesicht wie Greta Garbo, aber mit zwei Narben auf der Wange, wie bei Frauen irgendeines afrikanischen Stammes. Manchmal lächelte sie nicht und schien traurig, aber in der Regel war sie gut gelaunt und ihr Körper und ihre Zunge gleichermaßen agil. Stets elegant, standen ihr Trauerflor, Seidentuniken, Federhüte und sportliche Kleidung am besten. Als sie Jahre später die Einführung von Anne Clancier zu den Gedichten von Gilberte H. Dallas (1918–1960) las, dachte sie, die Liebe zu der Dichterin habe das Schicksal ihr eingeflößt. Anne Clancier schreibt: »Une fillette de dix ans, allongée dans une barque, flotte sur la mer, à midi. Elle essaie de fixer le soleil, attendant de ses rayons la mort et la délivrance. Elle se croit mal aimée, abandonnée de tous, elle espère retrouver au-delà de la mort la mère à jamais perdue. Lorsqu’on découvre l’enfant, après des heures de recherches, elle est inconsciente, frappée par l’insolation; on réussit à la sauver et il lui faut poursuivre sa route. Ce souvenir d’enfance nous livre la clef de la vie et de l’œuvre de Gilberte Dallas.

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